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Den Ursachen der MS auf der Spur: regulatorische, wandernde und versteckte Zellen

Das Bild der MS wird immer genauer. Das liegt auch an den beeindruckenden Ergebnissen jüngerer Forscher. Drei Sobek-Nachwuchspreisträger stellen ihre Arbeit vor:

Um die Erforschung der MS zu fördern, zeichnet die Roman, Marga und Mareille Sobek Stiftung junge Mediziner und Wissenschaftler mit dem Sobek Nachwuchspreis aus. Die Verleihung der Auszeichnung findet in Zusammenarbeit mit AMSEL in Stuttgart statt. In diesem Jahr wurden pandemiebedingt die Nachwuchspreisträger 2020 und 2022 der Sobek Stiftung geehrt. Sie berichteten kurz über ihre Forschungsergebnisse und Ansätze für ihre weiteren Forschungen.

Privatdozent Dr. med. Benjamin Knier, Sobek-Nachwuchspreisträger des Jahres 2020, forscht an der  Klinik und Poliklinik für Neurologie des Klinikums rechts der Isar der Technischen Universität München. In seinem Überblick "Myeloide Suppressorzellen - neue Akteure in der Pathophysiologie der Multiplen Sklerose" zeigte er, wie es ihm und seinem Team gelungen ist, myeloide Suppressorzellen im Liquor (Nervenwasser) nachzuweisen und die molekularen und zellulären Prozesse aufzuzeigen, die konventionelle Leukozyten zu immunregulatorischen „Suppressoren“ umwandeln.

Regulatorische Zellen stimulieren

Laut PD Knier sind sie in der Lage, die schädliche Aktivität autoimmuner B-Lymphozyten zu dämpfen. Wurde im Mausmodell die Suppressor-Wirkung dieser Regulatorzellen stimuliert, sank die Anzahl der B-Zellen im Zentralnervensystem, die Hirnentzündung nahm ab und der Krankheitsverlauf wurde gedämpft. Wurden im Gegenteil die Suppressorzellen zerstört, kam es zu einer Expansion der B-Zellen und zu einer Verschlechterung des Krankheitsverlaufs.

Seit seiner Habilitation im Jahr 2019 leitet Dr. Knier an der Neurologischen Klinik die Arbeitsgruppe Neuroophthalmologie. Mittels Optischer Kohärenztomografie (OCT) gelang ihm der Nachweis, dass bereits im Vorstadium der MS sichtbare Veränderungen der Netzhaut auftreten, die Hinweise auf den späteren Krankheitsverlauf geben können [amsel.de hatte erst kürzlich wieder über das OCT-Verfahren und seinen möglichen Einsatz zur MS-Prognose berichtet]. Auf Basis dieser Erkenntnisse lassen sich künftig Substanzen entwickeln, die ein hohes therapeutisches Potenzial für eine erfolgreiche Behandlung der MS erwarten lassen.

Der Sobek Nachwuchspreis 2022 ging an zwei Forscher. Zum einen wurde Prof. Dr. Anne-Katrin Pröbstel, Leitende Ärztin in der Neurologie am Universitätsspital Basel und Forschungsgruppenleiterin an den Departments Biomedizin und Klinische Forschung sowie dem Research Center for Clinical Neuroimmunology and Neuroscience der Universität Basel, für ihre wissenschaftliche Arbeit im Bereich der B-Zell-vermittelten Autoimmunerkrankungen des Zentralnervensystems ausgezeichnet. Die Basler Neurologin erforscht schwerpunktmäßig die Rolle von Autoantikörpern im Zusammenwirken mit einem Glycoprotein und deren klinische Bedeutung bei demyelinisierenden Erkrankungen wie der Multiplen Sklerose.

"Böse" B-Zellen wandern vom Darm ins ZNS

Ein weiterer Forschungsschwerpunkt der jungen Professorin sind die Mechanismen der B-Zell-Aktivität im Darm als wichtige immunregulatorische Größen und ihre Auswirkungen auf die Pathologie des Zentralnervensystems bei MS. In ihrem Kurzvortrag "Freund oder Feind? B-Zelldiversität bei der MS" beschrieb sie zwei Typen von B-Zellen: die „gutartigen“, die entzündungshemmend wirken, und die „bösartigen“, die Entzündungen fördern. Moderne Sequenzierungstechniken haben gezeigt, dass sich die antientzündlichen B-Zellen bei einem Schub auf den Weg vom Darm an den Entzündungsort im Zentralnervensystem machen.

Die zugelassenen B-Zell-depletierenden Medikamente gegen MS reduzieren vermutlich nicht nur die „bösen“ entzündungsfördernden, sondern auch die „guten“ antientzündlichen B-Zellen. Der Schluss liegt nahe und ist klinisch evident: Entfernt man die B-Zellen zu großzügig, kann sich die MS sogar verschlimmern. Ein Angriffspunkt für künftige Therapiemöglichkeiten wäre demnach die Manipulation des Darmmikrobioms. Die steigende Zahl der MS-Erkrankungen in den letzten 40 Jahren lässt den Schluss zu, dass ein Zusammenhang mit veränderten Ernährungsgewohnheiten besteht. Es deutet alles darauf hin, dass man mit Manipulation des Darmmikrobioms, flankiert von ausgewogener ballaststoffreicher Ernährung und ggf. Vitamin D-Substitution bedeutende Fortschritte in der MS-Therapie erzielen kann. Diesen Forschungsschwerpunkt wird die Gruppe um Professor Pröbstel weiterverfolgen.

Mit dem zweiten Sobek-Nachwuchspreis 2022 wurde ihr Kollege und bisweilen Co-Autor von wissenschaftlichen Arbeiten, Prof. Dr. Lucas Schirmer, Heisenberg-Professur für translationale Neurobiologie und Geschäftsführender Oberarzt und Leiter der Sektion für Neuroimmunologie an der Neurologischen Universitätsklinik Mannheim, ausgezeichnet. Ihm gelang es, neue zelltypspezifische Krankheitsmechanismen und potenziell neue therapeutische Zielstrukturen zu identifizieren. An der Uniklinik Mannheim etablierte er zusammen mit Kollegen 2018 sein eigenes Forschungslabor zu den Themen Neurobiologie und Neuroinflammation. Unter Anwendung der neuesten Techniken von Einzelzellsequenzierungsverfahren gelang es ihm, möglicherweise MS-relevante Veränderungen des Einzel-Zell-Genoms zu identifizieren.

Entzündungszellen bei MS "verstecken" sich in Nischen

In seinem Vortrag "Zelluläre und molekulare Schädigungsmuster der MS" verglich er das Gehirn mit einer mittelalterlichen Festung, geschützt mit dem Verteidigungswall der Blut-Hirn-Schranke. Doch welche Zelltypen schaffen es, den Verteidigungswall zu durchbrechen, sind an Entzündung und Gewebeschädigung beteiligt? Wie reagieren Nervenzellen, Gliazellen und Immunzellen? Und wie kann man Vulnerabilität und Resilienz von Zelltypen messen und vor allem beeinflussen?

Schirmer stellte fest, dass die Entzündungszellen sich in bestimmten Nischen festsetzen, wo sie schwer zu therapieren sind. Mithilfe neuester Technologien erstellte er mit seinem Team eine Kartografie der Entzündungsmuster bei MS. Bei der Dekodierung der Sehnerventzündung, einem häufigen Symptom der MS, entdeckte er eine kompartimentorientierte Verteilung der Zellen. Die Entwicklung der räumlich-zeitlichen zellulären und molekularen Landschaft sieht er als Schlüssel zum Verständnis der zugrundeliegenden Krankheitsmechanismen und zur Entwicklung zelltypspezifischer Präzisionstherapien.

Mit je 15.000 Euro unterstützte die Sobek Stiftung 2022 auf Vorschlag eines wissenschaftlichen Beirates junge Wissenschaftler, die mit ihren Forschungen neue Perspektiven für die Diagnose und Therapie der MS als Autoimmunerkrankung eröffnen.

Redaktion: AMSEL e.V., 02.09.2022