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Das Gehirn als sein eigener Jungbrunnen

30.05.07 - Die Entstehung neuronaler Schaltkreise wie auch deren Regeneration nach Beschädigung unterliegen den gleichen Prinzipien der "didaktischen Reorganisation". Das Nervensystem verjüngt sich kontinuierlich.

Gleich zwei Veröffentlichungen gab es Ende Mai zur Hirnforschung: Die "didaktische Reorganisiation" ist eine Entdeckung innerhalb einer Berliner Studie. Ein weiteres, internationales Forscherteam hat an Mäusen gezeigt, dass Regeneration mehr ist als der bloße Ersatz für untergegangene Neurone. Zunächst zu den Berliner Ergebnissen:

Jede kognitive Leistung eines Menschen - jede Erinnerung und jeder Gedanke - hängt von der genauen Verknüpfungsstruktur der Neurone in seinem Gehirn ab. Nicht nur während der Embryonalentwicklung, sondern während des ganzen Lebens, werden Verknüpfungen im Gehirn neu gebildet und andere aufgelöst. Als Teil einer internationalen Kollaboration haben Wissenschaftler des Bernstein Zentrums für Computational Neuroscience in Berlin, mit finanzieller Unterstützung der Berlin School of Mind and Brain, einige wichtige Prinzipien dieser neuronalen Verdrahtung entschlüsselt.

Die Studie, die von Joshua Young und Klaus Obermayer von der Technischen Universität Berlin durchgeführt wurde, führt zu einem besseren Verständnis fundamentaler Prozesse der Gehirnentwicklung, wie auch der Reorganisation des Gehirns nach Verletzungen wie zum Beispiel nach einem Schlaganfall oder nach einer Netzhautdegeneration. Weiterhin sind Wissenschaftler der Universität Sydney (Bogdan Dreher, Chun Wang), der Universität Newcastle, Australien (Michael Calford), und des Nencki Institute, Polen (Wioletta Waleszczyk) an der Forschung beteiligt.

Didaktische Reorganisation

Das Gehirn ist ein komplexes Netzwerk aus Neuronen, die über elektrische Signale kommunizieren. Jedes Neuron erhält Signale von vielen anderen vorgeschalteten Neuronen, die es integriert und verrechnet, um dann selbst ein Signal auszusenden. Bisherige Studien zeigen, dass die Weitergabe von Signalen regelrecht geübt werden kann. Wenn eine Zelle A einen Impuls aussendet, der in Zelle B eine Antwort auslöst, wird der Kontakt von der Zelle A zur Zelle B verstärkt. Die Verstärkung des Kontaktes zwischen den beiden Zellen führt wiederum dazu, dass Zelle B nun mit einer höheren Wahrscheinlichkeit auf ein Signal der Zelle A antwortet. Durch diesen Prozess lernt Zelle B das Aktivitätsmuster von Zelle A und übernimmt dieses. Wegen dieser einseitigen Übertragung von Aktivitätsmustern nennen die Wissenschaftler dieses Phänomen "didaktische Reorganisation".

Nach Verletzungen des Gehirns findet in der betreffenden Region eine massive Reorganisation statt. Die Wissenschaftler um Obermayer haben nun genauer untersucht, nach welchen Prinzipien sich Neurone im visuellen Kortex nach einer Verletzung in der Retina reorganisieren. Aus der Reaktion der Neurone auf visuelle Reize nach einer Regenerationsphase konnten die Wissenschaftler Rückschlüsse auf deren Verknüpfungsstruktur ziehen. Sie fanden, dass Neurone ganzer Hirnbereiche ihre Kontakte in einer sehr gleichförmigen Weise umorganisiert hatten. Aus Vergleichen dieser experimentellen Daten mit denen aus Computermodellen konnten die Forscher eindeutig ableiten, dass diese gleichförmige Art und Weise der Neuverschaltung eine Folge didaktischer Reorganisation ist.

Kortex verarbeitet visuelle Signale

Der Kortex ist die erste Verschaltungsebene im Gehirn, in der visuelle Signale, die auf die Retina fallen, auf Bildeigenschaften wie den Verlauf von Konturen hin analysiert werden. Bei einer Verletzung der Retina verlieren Neurone in einer kleinen, klar umrissenen Region des visuellen Kortex die entsprechenden Eingangssignale aus der Retina. Durch diesen Verlust von Input antworten die Neurone umso stärker auf Signale von anderen ihnen vorgeschalteten Zellen, in der Regel benachbarte Kortex-Zellen, die noch direkte Signale aus der Retina erhalten. Wegen dieser verstärkten Empfindlichkeit der betreffenden Zellen lässt sich das Prinzip der didaktischen Reorganisation am Beispiel der neuronalen Regeneration nach einer Retinaverletzung besonders eindrücklich demonstrieren.

Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass sowohl die Entstehung neuronaler Schaltkreise während der Entwicklung des Gehirns als auch die verschiedenen Schritte der Regeneration den gleichen grundlegenden Prinzipien folgen. Die Ergebnisse der Wissenschaftler sind ein wesentlicher Schritt im Verständnis dieser Prozesse und bilden damit die Voraussetzung für die Entwicklung besserer Behandlungsmöglichkeiten von Hirnverletzungen. Die Regeneration beschädigten Hirngewebes (sogenannter Läsionen) spielt im Verlauf der Multiplen Sklerose eine große Rolle: Symptome, die während eines Schubes auftreten, können sich danach nahezu komplett zurückbilden.

Mehr als ein Ersatz für alte Zellen

Beim Erwachsenen neu gebildete Neurone sind mehr als nur Ersatz für untergegangene Zellen. Dies geht aus den Beobachtungen eines internationalen Forscherteams der Johns Hopkins University School of Medicine in den USA und des College of Medicine der National Cheng Kung University in Taiwan hervor.

Die Arbeitsgruppe unter Leitung von Hongjun Song forschte an Mäusen. Sie benutzten ein Virus, um neu gebildete Gehirnzellen im Hippocampus – einem Hauptzentrum beim Lernen und Erinnern – mit einem fluoreszenten Protein selektiv zu markieren. Dies ermöglichte die Analyse neurophysiologischer Eigenschaften der neu gebildeten Neurone. Song und Kollegen interessierten sich vor allem dafür, wie anpassungsfähig diese Neurone sich verhielten.

Neurone wie beim Neugeborenen

So fanden die Forscher heraus, dass neue Hirnzellen bei Erwachsenen sich in ihrer Formbarkeit ähnlich verhielten wie Hirnzellen bei neugeborenen Tieren. Zuerst befanden sich diese Zellen in einer kritischen Phase, in der sie stark formbar waren, bevor sie sich wie reife Hirnzellen verhielten. Darüber hinaus ergab die molekulare Analyse der Wissenschaftler, dass die Anpassung der Neurone von der Funktion desselben Rezeptortyps abhängig ist, mit dem Lernprozesse bei neugeborenen Tieren assoziiert sind. Zudem stellten die Forscher fest, dass neu gebildete Neurone dieselben Verknüpfungen ausbilden wie sie Neurone von Neugeborenen als Reaktion auf Erfahrung ausbilden.

Aufgrund dieser Beobachtungen schließen die Forscher, dass die Neurogenese bei Erwachsenen mehr als nur einen Ersatz für untergegangene Neurone darstellt. "Es handelt sich vielmehr um einen anhaltenden Entwicklungsprozess, der das reife Nervensystem kontinuierlich verjüngt", betont Song.

Quellen: Nature Neuroscience (online) / idw 27.05.07; Neuron / Deutsches Ärzteblatt, 24.05.07

Redaktion: AMSEL e.V., 29.05.2007