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Das Corona-Virus: MS-Therapie in Zeiten von COVID-19

Im Dezember 2019 wurde in China erstmals eine Atemwegserkrankung beschrieben, die durch ein neuartiges Coronavirus SARS-CoV-2 verursacht wurde. Das hochinfektiöse Virus entwickelte sich in China zur Epidemie und breitete sich schließlich weltweit zur COVID-19-Pandemie aus, deren Folgen wir mittlerweile kennen. - Prof. Mathias Mäurer berichtet in der aktuellen Ausgabe von together.

Das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 befällt primär die Atemwege und wird vorwiegend durch Tröpfchen und Aerosole übertragen, Schmierinfektionen spielen wahrscheinlich eine eher untergeordnete Rolle. Die Krankheitsverläufe von COVID-19 (so bezeichnet man die durch das Virus SARS-CoV-2 hervorgerufene Erkrankung) können sehr unterschiedlich sein. In der überwiegenden Mehrzahl werden milde bis moderate Verläufe beobachtet. In einem geringen Prozentsatz muss jedoch mit einer schweren Lungenentzündung bis hin zu Lungenversagen und dem Tod des Patienten gerechnet werden. Das Risiko für schwere Verläufe steigt mit steigendem Lebensalter an, außerdem gelten Herz-Kreislauferkrankungen, chronische Lungenerkrankungen und Fettleibigkeit als Risikofaktoren für einen schweren Verlauf.

Das seit März 2020 praktizierte „social distancing“ mit Abstandhalten gilt als die effektivste Schutzmaßnahme vor der Verbreitung des Virus. Aber auch das – nicht unumstrittene – Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes in geschlossenen Räumen scheint zur Eindämmung des Infektionsgeschehens beigetragen zu haben. Durch diese Maßnahmen, aber auch durch eine erhebliche Achtsamkeit in breiten Teilen der Bevölkerung konnte die Verbreitung des Virus in Deutschland deutlich abgebremst werden.

Dennoch ist die Pandemie weiterhin aktiv, wie auch einige lokale Ausbrüche in verschiedenen Regionen Deutschlands gezeigt haben.

Corona und Multiple Sklerose (MS) 

Von daher ist es nachvollziehbar, dass sich Menschen mit chronischen Erkrankungen derzeit viele Gedanken machen. Das trifft auch auf MS-Erkrankte zu, die zudem in vielen Fällen zur Kontrolle der Autoimmunerkrankung MS-Medikamente anwenden, die die Funktion des Immunsystems beeinflussen. Hier tauchen dann viele praktische Fragen auf: Bin ich als MS-Patient stärker gefährdet, an COVID-19 zu erkranken? Kann ich meine MS-Medikamente weiter anwenden? Welche Therapie ist potentiell gefährlich? Muss ich meine Therapie abbrechen oder verschieben?

Zu Anfang der Pandemie war es nicht so einfach, darauf eindeutige Antworten zu geben. Mittlerweile haben wir jedoch einiges dazugelernt und können – auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus anderen, schwerer betroffenen Ländern – die Situation MS-Erkrankter in Zeiten der COVID-19-Pandemie besser einschätzen. Und, um dies bereits hier vorwegzunehmen, wir sehen auch in Zeiten von COVID-19 eine effektive medikamentöse Krankheitskontrolle deutlich vorrangig vor einer potentiellen Gefahr, an COVID-19 zu erkranken.

Ganz wichtig für die derzeitige Einschätzung sind die Daten MS-Erkrankter mit COVID-19 aus Italien, auch wenn man noch nicht von einer soliden Datengrundlage sprechen kann. Trotzdem lohnt sich der Blick auf die bisher gesammelten Daten der italienischen Kollegen, die Ende April in der Fachzeitschrift Lancet Neurology online publiziert wurden (Sormani MP; Italian Study Group on COVID-19 infection in multiple sclerosis. An Italian programme for COVID-19 infection in multiple sclerosis. Lancet Neurol. 2020 Apr 30 pii: S1474-4422(20)30147-2).

Insgesamt konnte die italienische Studiengruppe Daten von 232 MS-Patienten zusammentragen. Einen positiven PCR Test auf SARS CoV2 hatten 57 Patienten, bei 175 bestand der hochgradige klinische Verdacht auf eine SARS CoV2 Infektion (diese hohe Zahl unbestätigter Verdachtsfälle hängt mit der geringeren Testkapazität in Italien zusammen). Das mittlere Alter der Stichprobe betrug 44 Jahre, die überwiegende Mehrzahl der Patien- ten (88%) waren als schubförmige MS klassifiziert, der mittlere EDSS Wert betrug 2,6. Von den 232 Patienten waren 21 unbehandelt, alle anderen erhielten eine immuntherapeutische Behandlung. Alle derzeit verwendeten MS-Therapeutika waren in der Stichprobe vertreten, auch hochwirksame und/oder zell-depletierende Medikamente wie Fingolimod (13,4%), Natalizumab (10,8 %) oder Ocrelizumab (11,2 %).

Bei 223 der 232 Patienten (96 % der Fälle) war der Verlauf von COVID-19 mild, bei nur 4 Patienten (2 % der Fälle) verlief die Erkrankung schwer (d.h. mit Atemnot, Sättigungsabfall, Lungenentzündung). Sechs MS-Patienten (3 % der Fälle) hatten einen kritischen Verlauf (Atemversagen, septischer Schock und Multiorganversagen), fünf starben. Diese fünf Todesfälle hatten ein mittleres Lebensalter von 67 Jahren, ihre MS-Diagnose im Mittel vor mehr als 20 Jahren bekommen und litten daher auch bereits unter einer chronisch progredienten Verlaufsform (mittlerer EDSS 6,7). Interessanterweise hatten drei Patienten überhaupt keine MS-Therapie mehr und vier Patienten hatten kardiovaskuläre Risikofaktoren (Diabetes, schweres Übergewicht oder Arteriosklerose) – also die bereits allgemein bekannten Risikofaktoren für einen schweren COVID-19 Verlauf. Hingegen hatten die fünf MS-Patienten mit einem schweren, aber nicht tödlichen Verlauf, ein mittleres Lebensalter von 47 Jahren und ausnahmslos eine schubförmige MS mit einem mittleren EDSS von 4,6. Alle Patienten waren behandelt (2x Ocrelizumab, 1x Natalizumab, 1x Copaxone, 1x Fingolimod), aber 4 der 5 Überlebenden hatten keine zusätzlichen Erkrankungen, waren also bis auf die MS gesund.

Diese ersten Daten unterstützen demnach die Annahme, dass wahrscheinlich nicht die MS oder die immuntherapeutische Behandlung der MS eine Bedeutung für den Verlauf einer SARS CoV2 Infektion besitzt, sondern dass – wie in anderen Bevölkerungsgruppen auch – insbesondere fortgeschrittenes Lebensalter und kardiovaskuläre Risikofaktoren wesentliche Faktoren für einen schweren COVID-19 Verlauf sind. Auch wenn es sich um vorläufige Daten handelt, ist es doch beruhigend, dass in Italien 96% aller COVID-19 Fälle bei MS-Patienten mild verlaufen sind und es keine Hinweise darauf gibt, dass sich MS-Therapien nachteilig auf den Verlauf einer COVID-19 Erkrankung auswirken.

Diese Erfahrung wird auch aus Spanien berichtet (Montero-Escribano p et al. Anti-CD20 and COVID-19 in Multiple Sclerosis and Related Disorders: A Case Series of 60 Patients From Madrid, Spain Mult Scler Relat Disord 2020 May 7;42:102185). Die Autoren betreuen in Madrid, das sehr schwer von der Pandemie betroffen war, 60 MS-Patienten mit einer B-Zell depletierenden Therapie (Ocrelizumab, Rituximab). Insgesamt haben sich 9 von ihnen mit SARS-CoV-2 infiziert, einer musste stationär aufgenommen werden, bei allen anderen war der Verlauf der COVID-19 Erkrankung mild. Ein Zusammenhang zwischen dem Zeitpunkt der Infusion und der Infektion wurde nicht gefunden. Diese Daten aus Spanien bestätigen somit die Befunde der italienischen Beobachtungsstudie und belegen, dass MS-Patienten nicht in besonderem Maße gefährdet sind, an COVID-19 zu erkranken. Demnach sollte eine MS-Therapie wegen der Pandemie nicht ausgesetzt oder hinausgezögert werden – so steht es auch in den Empfehlungen der DMSG.

MS-Therapie kein Risiko Auch wenn die MS per se, auch unabhängig von der immuntherapeutischen Behandlung, kein Risiko für eine COVID-19 Erkrankung darzustellen scheint, soll im Folgenden auf die MS-Medikamente im Einzelnen eingegangen werden, da hier häufig Fragen auftreten.

Was die Therapie mit Interferon-Präparaten betrifft (Avonex®, Plegridy®, Rebif®, Betaferon®, Extavia®), so bestehen keine Bedenken. Diese Medikation hat aufgrund ihrer antiviralen Eigenschaften keinen negativen Effekt in der derzeitigen Situation und kann jederzeit begonnen und fortgesetzt werden. Das gleiche gilt für Glatirameracetat (Copaxone®, Clift®). Die Wirkung dieses Medikamentes ist sehr spezifisch bei MS und nutzt das gesunde Immunsystem zur Ausbildung von Toleranz gegenüber dem ZNS-Gewebe – auch hier ist keine negative Auswirkung auf das Immunsystem und die Infektabwehr anzunehmen. Daher ist auch im Hinblick auf Glatirameracetat weder der Beginn noch die Fortführung der Therapie derzeit von Nachteil.

Die orale Erstlinientherapie Teriflunomid (Aubagio®) hat einen Wirkmechanismus, der auf einer Reduktion von Lymphozyten, den Hauptakteuren unseres Immunsystem, beruht. Innerhalb der klinischen Studien und auch in den nachfolgenden Registerstudien waren Infekte aber nie ein Problem. Dementsprechend kann man davon ausgehen, dass Teriflunomid in der bei MS eingesetzten Dosierung unproblematisch ist. Beruhigend ist zudem, dass es grundlagenwissenschaftliche Studien zu Teriflunomid gibt, die eine antivirale Wirkung der Substanz belegen.

Auch bei Dimethylfumarat (Tecfidera®) besteht derzeit weder ein Problem mit dem Beginn noch mit der Fortset- zung der Therapie. Ein geringer Anteil von Dimethylfumarat-Patienten entwickelt zu Beginn der Therapie eine recht ausgeprägte Lymphozytopenie, die dann häufig auch anhält. Um diese Gruppe zu identifizieren sind daher auch – insbesondere zu Beginn der Therapie – regelmäßige Kontrollen des Differentialblutbildes empfohlen. Falls sich ein Lymphozytenabfall zeigt, sollte der Patient sowieso zeitnah auf ein anderes Präparat umgestellt werden – v. a. wegen der möglichen Gefahr für opportunistische Infektionen. Ein einmalig zu niedriger Lymphozytenwert sollte immer erst kontrolliert werden, bevor eine Maßnahme erfolgt.

Zu den wirkstärkeren Zweitlinienpräparaten gehört Natalizumab (Tysabri®). Es wirkt sehr spezifisch auf die Transmigration von T-Zellen ins Gehirn, hat also eher wenig Einfluss auf die Virusabwehr und ist auch innerhalb seiner Zulassungsstudien nicht durch vermehrte Infekte aufgefallen. Natalizumab ist hochwirksam und daher eine gute Wahl, wenn es aktuell um die Neueinstellung (hoch)aktiver Patienten geht, vor allem bei JCV negativen Patienten. Die Wirkweise von Fingolimod (Gilenya®) – ebenfalls ein wirkstärkeres Zweitlinienpräparat – ist es, Entzündungszellen in den Lymphknoten zurückzuhalten. Dadurch werden weniger Lymphozyten im peripheren Blut gemessen, die Zellen sind aber faktisch noch im Körper vorhanden und auch reaktionsfähig. Allerdings war in den klinischen Studien bei den mit Fingolimod behandelten Patienten eine höhere Inzidenz von Atemwegserkrankungen festzustellen. In der FREEDOMS Studie traten Infektionen der unteren Atemwege und der Lunge bei 6% der Placebo-Patienten und 9,6 % der Patienten mit Fingolimod 0,5 mg auf – also kein sehr großer Unterschied. Da das Absetzen von Fingolimod die Gefahr einer Rückkehr der Schubaktivität birgt (Rebound), ist es sinnvoll und pragmatisch, die Therapie weiterzuführen und die allgemeinen Schutzmaßnahmen zu beachten.

Alemtuzumab (Lemtrada®) und Cladribin (Mavenclad®) sind Medikamente, die T- und B-Zellen depletieren – also die Hauptakteure der adaptiven Immunität. Daher sollte man insbesondere im Zeitraum kurz nach der Infusion/Tablettengabe sicherlich etwas vorsichtiger sein und auf „social distancing“ achten. Wenn keine gravierenden anderen Gründe (Begleiterkrankung, deutliche Lymphozytopien, aktive Infektion) dagegensprechen, sollte man auch anstehende Therapiezyklen weiter fortführen. Diejenigen, die Alemtuzumab oder Cladribin schon vor Mo- naten das letzte Mal eingenommen haben, können gelassen sein – hier dürfte die kritische Phase vorbei sein. Ocrelizumab (Ocrevus®) ist ein häufig angewendetes Zweitlinienpräparat, das CD20 positive B-Zellen im Blut depletiert. Hier befinden sich allerdings nur ca. 2% der Lymphozyten, das heißt, die überwiegende Mehrzahl der Immunzellen befindet sich in den lymphatischen Organen und werden durch den Antikörper nur bedingt erreicht. Darüber hinaus spielen B-Zellen bei der primären Virus- abwehr nicht die Hauptrolle. Somit ist es nicht überraschend, dass die spanischen und italienischen Beobachtungsstudien speziell bei diesen Patienten kein Sicherheitssignal bei COVID-19 Erkrankungen gefunden haben, auch wenn für Ocrelizumab während der Zulas-sungsstudie mehr Infektionen des oberen Respirationstraktes als in der Interferongruppe gefunden (15,2% vs. 10,5%) wurden. Somit sollte auch eine Therapie mit Ocrelizumab regelhaft fortgesetzt werden. Auch gegen den Beginn einer solchen Therapie, wenn medizinisch indiziert, spricht derzeit nichts. Zusammenfassend besteht somit kein Grund, sich bezüglich der MS-Therapie besondere Sorgen zu machen – vorausgesetzt, es bestehen außer der MS keine weiteren Erkrankungen und die Erkrankung selbst hat noch keine wesentlichen Einschränkungen hervorgerufen. Allerdings sollte man MS-Patienten, die bereits im fortgeschrittenen Lebensalter sind, internistische Begleiterkrankungen haben und/oder schwer körperlich eingeschränkt und pflegebedürftig sind, zu erhöhter Vorsicht und strikter Befolgung der allgemeinen Schutzmaßnahmen raten.

 

Quelle: together 2.20, Autor:  Prof. Dr. med. Mathias Mäurer Chefarzt Neurologie und Neurologische Frührehabilitation, Klinikum Würzburg Mitte gGmbH, Standort Juliusspital, Würzburg und Autor unseres MS-DocBlog

Redaktion: AMSEL e.V., 19.06.2020