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Corona mit Multipler Sklerose? – Ein Leben voller Umwege

Manuela hat diese Erfahrung gemacht. Doch die 49-jährige hat gelernt, mit solchen Herausforderungen umzugehen und lässt sich auch von dem Virus nicht beirren.

Sie hat ihre MS inzwischen angenommen und lebt als „Reingeschmeckte“ in einem Ort bei Sigmaringen. Geprägt ist ihre Vita von Umwegen, die sie gehen muss, um ihre Ziele zu erreichen. Auch ihre MS-Erkrankung versteht die Wahlschwäbin als Umweg, denn diese hat sie aus dem Erwerbsleben herausgerissen und auf verschlungene Wege geschickt, bis sie ihr wahres Lebensziel entdeckte: Musik. Ihre Infektion mit dem Corona-Virus sieht Manuela als einen weiteren Umweg auf dem Weg zu ihrem Lebensziel.

Bereits als Kind wollte Manuela Musikerin werden, spielte mit neun Jahren schon Querflöte im Spielmannszug ihres Heimatorts bei Düsseldorf. Erlernt hat sie aber den Beruf der Arzthelferin, ihre Eltern wollten, dass sie einen „bodenständigen“ Beruf ergreift. Die Musik musste fürs Erste Hobby bleiben. Letztendlich war die Arbeit in einer Arztpraxis nicht ihr Ding. Es folgte eine Ausbildung zur Bürokauffrau. Mit 30 kam die MS. Symptome wie Fatigue und Konzentrationsprobleme hatte sie schon länger, die erste Sehnervenzündung führte zur Liquordiagnostik und Bestätigung der MS. Danach hatte sie fünf Jahre Ruhe, keinen Schub. Ihr Leben „ging zurück auf normal“, wie sie es ausdrückt. Mit etwa 35 nahm die MS Fahrt auf mit häufigen Sehnervenzündungen und Missempfindungen an den Extremitäten. Auch die Berentung ließ Manuela nicht resignieren, sie holte ihre Fachhochschulreife nach, studierte Bildungswissenschaften. An der örtlichen Grundschule fand sie einen Minijob als Hausaufgabenbetreuerin. Kinder und Musik sind ihre Welt, das hatte sie nun erkannt und damit ein wichtiges Etappenziel auf ihrem Lebensweg erreicht.

Immer in Bewegung bleiben

Getreu ihrem Motto „immer schauen, was geht“ ist Manuela vielseitig engagiert. So war die Idealistin ehren- amtlich beim Kinderschutzbund tätig, betreute Flüchtlingskinder, setzte sich für ein Jugendzentrum am Ort ein und engagierte sich in der Kommunalpolitik, sang im Kirchen- und Gospelchor. Umwege über Hilfsmittel sind für sie Alltag: Autofahren trotz Fußheberschwäche? Umrüstung auf Handgas war die Lösung. AMSEL unter- stützte dabei. Gleiche Problematik mit den Pedalen am Klavier. Ihr Klavierbauer wusste Abhilfe. Bewegung im Klassenzimmer? Geht mit Orthesen. Bewegung draußen? Schafft die Pragmatikerin mit dem Rollstuhl.

Inzwischen ist ihre MS hochaktiv, schreitet fort, und trotz mehrerer medikamentöser Therapieversuche treten immer wieder Schübe mit Sehnerventzündungen und Empfindungsstörungen besonders in den Beinen auf. Seit etwa zwei Jahren leidet Manuela auch an nächtlichen Spastiken. 2020 hatte sie vier schwere Schübe, die sie an die Grenzen ihrer Belastbarkeit schickten. Nach mehreren Sehnerventzündungen und Doppelbildsehen
war sie auf dem betroffenen Auge fast blind. Das Schlimmste: die Musikerin konnte keine Noten mehr lesen! Aber: Jammern gilt für Manuela nicht. „Ich bin dankbar so, wie es ist, denn es war auch schon viel schlimmer“, resümiert sie. Ihre Methode, mit der Krankheit und ihren Einschränkungen umzugehen, beschreibt die Frohnatur mit dem Bild der Waage: in der einen Waagschale liegt die Last der Krankheit, in die andere packt sie die Dinge, die sie erfüllen, die Musik und die Arbeit mit Kindern. Steht die Waage im Gleichgewicht, ist alles gut.

Corona – ein weiterer Umweg

Im Frühjahr 2020 war Corona noch weit weg von ihrem beschaulichen Wohnort. Dass das Virus sie treffen könnte, sich gar zur Pandemie ausweiten würde, wie einer ihrer Freunde prophezeite, glaubte Manuela lange nicht. Sie hielt sich an die AHA-Regeln, fühlte sich sicher. Dennoch hat das Virus sie erwischt.

Eines Tages im März fühlte sie sich krank, noch etwas abgeschlagener als sonst. Die leichten Grippe-Symptome hielt sie für beginnenden Heuschnupfen, die zwei Tage Geschmacksverlust beunruhigten die Optimistin nicht sonderlich. Sie hatte immer mal schlechtere Tage, danach kamen wieder gute. Als ihre Freundin, bei der sie sich vermutlich angesteckt hatte, positiv auf Corona getestet wurde, ging Manuela vorsichtshalber in Quarantäne. Die fühlte sich im Grunde genauso an wie bei einem Schub: ans Haus gefesselt, an Rausgehen nicht zu denken. Eine Freundin brachte ihr alles Nötige an die Haustür, übernahm das Gassigehen mit ihrem Hund. Testen ließ sich Manuela zu diesem Zeitpunkt nicht. Ihre Symptome waren nicht besorgniserregend, nach zwei Wochen war sie wieder fit – so fit sie MS-bedingt eben sein konnte.

Festgestellt wurde ihre Infektion erst im Sommer, als die Schulen wieder öffneten und Manuela ihren Job als Hausaufgabenbetreuerin wieder antreten wollte. Da musste sie sich testen lassen und es wurden Antikörper bei ihr nachgewiesen. Die Episode vom März war Corona gewesen. Angst vor einer erneuten Infektion hat sie nicht. Mit einer Impfung möchte sie noch warten, bis eine breitere Datenbasis zur Risiko-Nutzen-Abwägung bei MS vorhanden ist. Die Entscheidung wird die Realistin in Absprache mit ihrem Neurologen treffen, wenn die Zeit reif ist.

Manuela lebt ohnehin schon sehr zurückgezogen mit ihren Tieren, Hündin Josie, zurzeit in Ausbildung zur Assistenzhündin, und Kater Findus.

Ihr Freundeskreis ist überschaubar, sie mag lieber wenige intensive Freundschaften als einen großen Bekanntenkreis. Umso härter trafen sie die Kontaktbeschränkungen: kein Chorgesang, keine Kinder um sie herum, ein Minimum an Kontakt nach außen. Und „ein Glück“, ergänzt Manuela, „dass Corona nicht vor fünfzig Jahren aufgetreten ist! Ohne Internet wäre die soziale Distanz noch viel schlechter zu ertragen gewesen“. In der Natur und im Klavierspiel zu Hause findet Manuela Ausgleich und Kraft. Dass die Musik eines Tages die Führung in ihrem Leben übernehmen sollte, hatte die Hobbymusikerin lange nicht geahnt.

Mit Musik direkt ans Ziel

Der Wendepunkt ihres Lebens kam 2016 mit dem Besuch eines Kirchenkonzerts. Es war ein Auftritt des bekannten Tenors Jay Alexander. Der Titel des Konzerts „Geh aus, mein Herz“ berührte Manuela zutiefst. Sie war hingerissen von seiner mächtigen Stimme, die auch den hintersten Winkel der Kirche auszufüllen schien. „Im reifen Alter von 45 Jahren wurde ich sozusagen zum Groupie“, schmunzelt sie. Jay wurde zu ihrem Vorbild. Sie nahm Gesangsunterricht und Klavier- stunden und startete ihre Ausbildung zur Chorleiterin. Der Gesang des Tenors gab ihrem Leben eine neue Richtung, erfüllte sie mit ihrer „Lebensmusik“, in der sie nun ihre Bestimmung erkannte. Manuela wird Jay dafür immer dankbar sein.

„Finde heraus, wofür du brennst, wofür du lebst. Das erleichtert alles, auch die Krankheit“, ist Manuela überzeugt. Nun wartet sie sehnlichst auf die Lockerung der Schutzmaßnahmen, damit sie endlich wieder „ihre“ Kinder um sich haben, im Chor singen und vor allem ihre letzten Prüfungen zur nebenberuflichen Kinderchorleiterin ablegen kann. Um dann hoffentlich mit einem eigenen Kinderchor durchzustarten.

Quelle: together, #01.21

Redaktion: AMSEL e.V., 04.08.2021