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Biomarker als Meilenstein im Jubiläumsjahr

Dr. Hans J. Reiter, Direktor des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg, Dr. Ali Maisam Afzali, Sobek Nachwuchspreisträger 2024, Prof. Dr. Dr. Jens Kuhle, Sobek Forschungspreisträger 2024, und Prof. Dr. Klaus V. Toyka, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates der Sobek Stiftung [v.l.n.r.].

Feierliche Preisverleihung am Nikolaustag im Jubiläumsjahr: Die Sobek Stiftung feiert 2024 ihr 30-jähriges Bestehen, die AMSEL wurde im Oktober 50 Jahre alt. Ein glanzvoller Abschluss mit zahlreichen Gästen im Konzertsaal der Stuttgarter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst war die Verleihung des Sobek Forschungspreises an Prof. Dr. Dr. Jens Kuhle, Basel, und des Nachwuchspreises an Dr. Ali Maisam Afzali, München.

In seinem Willkommensgruß zog Hausherr Axel Köhler, Rektor der Hochschule, eine Parallele zwischen Forschung und dem Üben eines Musikinstruments. Beides erfordere Entschlossenheit und Durchhaltevermögen: „Ihr Forschen ist unser Üben.“

Unter den Gästen: Menschen aus der Forschung natürlich. Darunter auch Prof. Dr. Hans Lassmann, Pionier der Immunpathologie in der Multiple-Sklerose-Forschung und seinerzeit der erste Sobek Forschungspreisträger. Menschen aus Politik und Wirtschaft. Und nicht zuletzt: Menschen mit Multipler Sklerose.

Adam Michel, Vorsitzender der AMSEL e.V., zeigte sich erfreut darüber, dass das medizinische Interesse von MS-Betroffenen mit den Jahren stark gewachsen ist. Er verbuchte dies auch als Erfolg von AMSEL und DMSG, die systematisch neue Forschungsergebnisse und Therapieoptionen patientengerecht aufbereiten und veröffentlichen. Prof. Dr. Judith Haas, Vorsitzende der DMSG Bundesverband e.V., bezeichnete die Fortschritte im Monitoring der Krankheitsaktivität als wichtige Hoffnungsträger für ein immer besseres Leben mit MS. Traditionell präsentierten zunächst die Preisträger vorangegangener Jahre die jüngsten Ergebnisse ihrer Arbeit, die mit den Sobek Preisgeldern gefördert wurden.

Verleihung der Sobek Forschungspreise 2024 (Fotostrecke)

Die Sobek Forschungspreise würdigen herausragende Leistungen auf dem Gebiet der MS-Forschung. Dieses Jahr ging der Sobek Forschungspreis an einen Wissenschaftler in Basel, der Sobek Nachwuchspreis nach München.

Krankheitsfortschritt im Fokus der Forschung

Der Sobek Forschungspreisträger 2017, Prof. Dr. Ludwig Kappos vom Universitätsspital Basel, betonte den Stellenwert von Beobachtungsstudien als Ergänzung zu und Absicherung von Ergebnissen aus prospektiven, randomisierten Studien. Grundlagenforschung führe zu einem besseren Verständnis der Krankheitsentstehung und zur Entwicklung innovativer Substanzen.

Voraussetzung für die Relevanz der Ergebnisse sei ein strenges Studiendesign über einen möglichst langen Zeitraum. So hat bspw. eine Beobachtungsstudie über zehn Jahre den Nachweis erbracht, dass Ocrelizumab Schübe zwar fast vollständig verhindern, eine von Schüben zeitlich unabhängige schleichende Progression (kurz: „PIRA“) allerdings nur teilweise aufhalten kann. Die Krankheitsprogression bleibe somit zentrales Thema in Forschung, Diagnostik und Therapie. Den anhaltenden Prozess der Verschlechterung könne man über alle Verlaufsformen hinweg beobachten. Beim Erfassen dieser Progression sei ein ganzheitliches Herangehen erforderlich.

Großes Potenzial für individualisierte Therapieoptionen und Verlaufsprognose sieht Professor Kappos in den Labor-Biomarkern NfL und GFAP, die der diesjährige Preisträger intensiv erforscht, und im Monitoring von digitalen Biomarkern via Smartphone oder Smartwatch durch MS-Betroffene. Hier liefern aktive Kurz-Tests zu Mobilität, Kognition und Sehen sowie die passive Überwachung etwa von körperlicher Aktivität, Herzfrequenz, Kalorienverbrauch etc. wichtige Daten über den Erfolg einer Therapie und eine Entscheidungsgrundlage für einen möglichen Wechsel. Die Datenerhebung dafür – das Studienprogramm dreaMS—soll in Kürze beginnen.

Misskommunikation und Beuteltiere

Dass Multiple Sklerose durch eine Misskommunikation zwischen Zellen entsteht, diese Meinung vertrat Prof. Dr. Burkhard Becher, Zürich, schon 2019 bei seiner Sobek Forschungspreisverleihung. Die Ankündigung heute, dass er sich bis zu seiner Emeritierung 2034 unter anderem mit der Beuteltierforschung beschäftigen wolle, sorgte für Erstaunen im Publikum: Was haben Beuteltiere mit MS zu tun? Die Gäste durften gespannt sein auf seine einmal mehr humorvolle Präsentation wissenschaftlicher Erkenntnisse.

Eine Schwangerschaft sei eine der besten MS-Therapien, so Becher. Schwangere erleben selten Schübe. Warum aber wird der Fötus im Mutterleib nicht vom Immunsystem als körperfremd erkannt und abgestoßen? Woher kommt diese spezifische Immuntoleranz, die für das Überleben einer ganzen Spezies sorgt? Professor Bechers These: Die Schwangerschaft stimuliert toleranzerzeugende regulatorische Lymphozyten, die das Zentrale Nervensystem vor dem Angriff schützen. Was diesen Mechanismus auslöst, will der Züricher Neurologe durch immunologische „Fingerabdrücke“ von schwangeren Frauen im Vergleich zu denen von Beuteltieren herausfinden. Denn anders als beim Menschen werden Beuteltier-Föten tatsächlich schon nach etwa 30 Tagen abgestoßen und geboren, wachsen dann ein knappes Jahr im Beutel des Muttertieres heran. Die Unterschiede in den immunologischen Fingerabdrücken könnten Ansatzpunkte für die Entwicklung neuer Therapien der MS ergeben.

Biomarker – Meilenstein auf dem Weg zur individualisierten MS-Therapie

„30 Jahre Sobek Stiftung und 50 Jahre AMSEL – so viele Jahrzehnte im Dienste der MS-Erkrankten sind ein eindeutiges Signal auch an die Forschung, am Ball zu bleiben und nicht aufzugeben“, so Ministerialdirektor Dr. Hans J. Reiter, Amtschef des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg. Die Sobek Stiftung würdige mit dem diesjährigen Forschungspreis die wissenschaftliche Leistung des international anerkannten Neuroimmunologen Prof. Dr. Dr. Jens Kuhle, Universität Basel, zur Aussagekraft bestimmter Biomarker in Blut und Liquor.

Kuhle fand heraus, dass erhöhte Konzentrationen des löslichen Neurofilament-Leichtketten-Proteins (NfL) mit der Axon-Schädigung und der entzündlichen Aktivität der MS-Erkrankung einhergehen und auch mit dem in der Bildgebung via MRT erfassten Läsionsgrad des zentralen Nervensystems korrelieren. Große Hoffnungen setzt er auch auf das saure Gliafaserprotein GFAP. Die Analyse dieses Proteins erfasse die schleichende Krankheitsprogression noch präziser als NfL.

Eine breite Datenbasis biete die Schweizer MS-Kohorten-Studie mit inzwischen über 2.000 Teilnehmern, die Professor Kuhle initiiert hat und leitet, so sein Laudator. Seit 2014 erforscht er in Zusammenarbeit mit allen schweizerischen und vielen internationalen MS-Zentren die Bedeutung von Biomarkern für die Progression der MS. Die Labor-gestützten Biomarker NfL und GFAP liefern Hinweise für individuelle Therapieentscheidungen und für die Bewertung von Therapie-Effekten bei MS. Anhand dieser Indizien lasse sich die Intensität der Therapie individuell anpassen.

Ein hoher NfL-Wert, so der Neuroimmunologe Prof. Dr. Dr. Jens Kuhle vor den Gästen im Konzertsaal der Musikhochschule, spreche eher für die Intensivierung der Therapie oder ein stärkeres Medikament. Ein erhöhter GFAP-Wert weise auf eine künftige Progression hin. Ein dauerhaft niedriger NfL-Wert könne als Hinweis auf eine mögliche Deeskalation der Therapie gewertet werden, so der Preisträger. Da eine Axonschädigung auch bei anderen neurologischen Erkrankungen vorkommt, rechne er damit, dass die Biomarker-Diagnostik künftig auch bei Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson herangezogen werden kann.

Kontrollfunktion der Thymus-B-Lymphozyten entschlüsselt

Die jüngste Publikation von Dr. med. Ali Maisam Afzali, München, wurde in der renommierten Fachzeitschrift „Nature“ veröffentlichtEin absolutes Qualitätsmerkmal für eine wissenschaftliche Arbeit und nach den Worten von Laudator Prof. Dr. Klaus V. Toyka, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Sobek Stiftung, ein wichtiges Kriterium für die Jury, ihm den Sobek Nachwuchspreis 2024 zu verleihen. Mit dem Team um Professor Korn, dem Sobek Preisträger 2023, erforscht Afzali Autoantikörper-Mechanismen bei Neuromyelitis optica (NMOSD), einer der MS ähnlichen Erkrankung.

Meist liege bei der NMOSD eine systemische Zirkulation von Autoantikörpern gegen ein Wasserkanalprotein (Aquaporin-4-Kanäle, kurz: Aqp4) vor, so der Preisträger in seinem Vortrag. Bei Gesunden toleriert das Immunsystem Aqp4, bei Menschen mit NMOSD greift es diese Zellen im Zentralen Nervensystem an. Die Immunantwort im ZNS führt zu einer Demyelinisierung der Neuronen. Gegengesteuert werden kann durch Interaktion von T- und B-Zellen im Thymus: Eine Selektion von B-Zellen im Thymus, und dies gelang Afzali erstmals nachzuweisen, kann die Antikörperproduktion steuern und schädliche Wirkungen unterbinden. Zum Einsatz kamen hierbei neueste Techniken, genetische Manipulationen im Maus-Modell und andere Strategien.

Dass B-Zellen im Thymus auf diese Weise interagieren, ist neu. Die Erkenntnisse von Afzali und seinem Team können die Basis für innovative Therapiestrategien auch für andere Autoimmunkrankheiten wie der Multiplen Sklerose liefern. Toyka lobte die hervorragende Zusammenarbeit verschiedener Institute rechts und links der Isar in dem Münchner Großprojekt SynErgy, das von der DFG und anderen Organisationen umfangreich gefördert wird und zu dessen Team Dr. Ali Afzali gehört.

Runde Jubiläen, betonte Andrea Schildhorn, Vorstandsvorsitzende der Sobek Stiftung unter dem Dach des Deutschen Stiftungszentrums GmbH, abschließend, eignen sich besonders dafür, Vergangenes und Kommendes miteinander zu verbinden. Mareille Sobek starb 1960 mit 21 Jahren. Seit Gründung der Sobek Stiftung 1994 habe sich die Lebenssituation der MS-Betroffenen durch die Vielfalt der zugelassenen Wirkstoffe signifikant verbessert. Die heutigen Vernetzungsmöglichkeiten und die Einbeziehung künstlicher Intelligenz bieten ermutigende Perspektiven für künftige individualisierte Therapieoptionen der MS. Die Auslobung der Sobek Forschungspreise wird diese positive Entwicklung auch künftig fördern.

Den musikalischen Rahmen des Festakts gestaltete Professor Johannes Monno mit Studierenden der Musikhochschule.

Sobek Stiftung und Sobek Forschungspreise

Vor 30 Jahren wurde die Roman, Marga und Mareille Sobek Stiftung gegründet. Roman und Margas Tochter war sehr jung an Multipler Sklerose gestorben. Ihr Wunsch war es, anderen MS-Erkrankten zu helfen.

Mittlerweile hat der wissenschaftliche Beirat der Sobek Stiftung über 30 Sobek Forschungspreise verliehen. Der Sobek Forschungspreis geht an die besten der besten Forscherinnen und Forscher in Europa, die sich durch herausragende Leistung auf dem Gebiet der Multiple Sklerose-Forschung auszeichnen. Mit 100.000 Euro ist er europaweit der höchstdotierte Preis für die Erforschung der MS.

Neben dem Hauptpreis wird jährlich ein Nachwuchspreis verliehen. Dieser ist mit 10.000 Euro dotiert und geht ebenfalls an Forscherinnen und Forscher, die sich der (Grundlagen-) Forschung der MS widmen und darin herausragende Leistungen erzielen.

Die Auslobung des Sobek Nachwuchspreises begann ein paar Jahre nach der Auslobung der Sobek Forschungspreise. In einzelnen Jahren gingen der Sobek Forschungspreis und der Sobek Nachwuchspreis außerdem an zwei Preisträger.

Die Sobek Forschungspreise helfen nicht nur, MS-Forschung zu finanzieren. Sie sind zusätzliche Motivation und Antrieb für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Multiple Sklerose unabhängig zu erforschen und damit die Behandlungsmöglichkeiten sowie die Lebensqualität von Menschen mit MS zu verbessern.

Redaktion: AMSEL e.V., 11.12.2024