Autonomie

Aktionstag für Junge MS-Kranke, 6. Juli 2002

Themengruppe I

"Lebensqualität und MS: Widerspruch oder Herausforderung"

MS und Selbstkonzept
Die Mitteilung der Diagnose "MS" stellt für die Betroffenen einen fundamentalen Einschnitt in ihr bisheriges Leben dar. Plötzlich muß die ganze Lebensplanung neu überdacht, Ziele modifiziert, vielleicht sogar aufgegeben werden.

Fragen wie "Warum gerade ich?, Werde ich irgendwann einen Rollstuhl benötigen?, Wie wird mein Partner/ meine Partnerin reagieren?, Kann ich meinen Kinderwunsch realisieren?, Was werden die Nachbarn denken?, Ich- behindert? Niemals!, Wie lange kann ich noch arbeiten?", Bin ich noch attraktiv?" , "wie reagiere ich auf Fragen meines Umfelds?", "soll ich meinen Arbeitgeber informieren" drängen sich ins Bewußtsein.

Häufig resultiert aus dieser Verunsicherung eine Veränderung des Selbstkonzepts. Das über Jahre hinweg entwickelte Selbstbild gerät aus den Fugen. Plötzlich wird z.B. aus einer vormals selbstbewußten und durchsetzungsfähigen Frau, eine verunsicherte Persönlichkeit, die große Probleme damit hat, sich durchzusetzen oder Forderungen zu stellen.

Meiner Erfahrung nach stellt dieses veränderte Selbstbild und Ängste bezüglich der zukünftigen Entwicklung der Krankheit in der Regel eine viel größere Gefährdung für die Lebensqualität dar, als die aktuell vorhandene Symptomatik es rechtfertigen würde. Die Angst vor der Zukunft lähmt, verhindert oftmals eine adäquate Auseinandersetzung mit der Erkrankung, macht im schlimmsten Fall depressiv.

In der Auseinandersetzung mit diesen Themen lassen sich aus therapeutischer Sicht oft verschiedenen Phasen und Bewältigungsstrategien differenzieren. Die wichtigsten sind dabei:

1.. Schock
Die Diagnose wird in ihrer Gesamtheit nicht erfaßt. Dabei handelt es sich um einen Schutzmechanismus unseres Körpers, um uns vor Bedrohungen, die wir seelisch nicht verarbeiten könnten, zu schützen.

2.. Verdrängen
Auch dabei handelt es sich um eine Schutzreaktion. Dies ist auch aus psychologischer Sicht für die Anfangsphase, wie viele Studien belegen, ein durchaus hilfreicher Mechanismus. Problematisch wird es jedoch, wenn notwendige Behandlungen nicht begonnen werden oder erforderliche Anpassungen nicht stattfinden. (Bsp. Hausbau?)

3.. Schonung
Häufig beginnen Patienten Auseinandersetzungen zu vermeiden, Anstrengungen aus dem Weg zu gehen, aus Furcht eine neue Krankheitsverschlechterung zu erleiden. Aber ist ein unterdrückter schwelender Konflikt tatsächlich weniger bedrohlich als ein kurzes reinigendes Gewitter?

4.. Kampf
Symptome werden "mit allen Mitteln" bekämpft. Frei nach dem Motto viel hilft viel, überfordern sich viele durch zu intensive und kraftraubende Therapien, lehnen Hilfsmittel ab, die die Lebensqualität deutlich erhöhen könnten usw. Die bedauerliche Folge ist nicht selten ein chronischer Erschöpfungszustand, der sich wiederum negativ auf das Selbstbild ("ich bin zu nichts mehr nütze") niederschlägt.

5.. Akzeptanz / Annehmen der Diagnose
An diesem Punkt gelingt die Bewältigung der Erkrankung zunehmend besser. Hilfsmittel werden als solche angesehen und nicht als potenzielle Bedrohung, die um jeden Preis zu vermeiden ist. Man versucht, Normalität zu leben.

Die Übergänge zwischen diesen Phasen sind dabei fließend, häufig kommt es zu Wechseln zwischen den einzelnen Bewältigungsstrategien.

Dabei sind je nach Persönlichkeit und aktueller Lebenssituation verschiedene Strategien unterschiedlich hilfreich bzw. bergen unterschiedliche Risiken.

Insbesondere der Versuch, durch Schonung den weiteren Verlauf der Erkrankung positiv zu beeinflussen, kann zu sozialem Rückzug und letztendlich zur Vereinsamung führen. Man nimmt nicht mehr an Aktivitäten teil, zieht sich zurück, denkt vielleicht an Beendigung der Berufstätigkeit usw. Alle diese Verhaltensweisen bedeuten gleichzeitig die Aufgabe wichtiger Kontakte, Strukturen im Tagesablauf fallen weg, positive Erlebnisse reduzieren sich - die Krankheit rückt ins Zentrum der Aufmerksamkeit, wird zum Lebensmittelpunkt.

Während in der Phase der Verleugnung notwendige therapeutische Maßnahmen u.U. unterlassen werden, kann in der Phase des Kampfes leicht eine Überforderungssituation entstehen, die sich auch unmittelbar auf das soziale Umfeld auswirkt. Insbesondere dann, wenn Hilfsangebote vehement abgelehnt werden oder der eigenen Körper mit seiner Behinderung abgelehnt wird. Angehörige und Freunde stehen dem Geschehen vielfach hilflos gegenüber. Einerseits sind sie ebenfalls betroffen, möchten dem Erkrankten ihre Unterstützung anbieten, wissen aber nicht wie und in welchem Umfang. Für Aussenstehende ist es nur schwer nachvollziehbar, daß Befindlichkeiten von Tag-zu-Tag oder auch während eines Tages stark wechseln können. Was gestern noch Probleme bereitete kann heute gut bewältigt werden, was morgens noch durchführbar war, wird nachmittags zum unüberwindbaren Hindernis. Da jedoch in unserer Gesellschaft, die vom Leistungsgedanken geprägt ist, viele Menschen Probleme damit haben, Bedürfnisse zu formulieren oder um Hilfe zu bitten, aus Angst "lästig" zu sein oder abgelehnt zu werden, verstummen die Betroffenen vielfach.

Dadurch entstehen innerhalb der Familien / Beziehungen chronische Konflikte, die im schlimmsten Fall zu einem Auseinanderbrechen der Familienstrukturen führen. Die Ursachen dafür sind z.B., daß Angehörige sich abgelehnt und ausgeschlossen fühlen oder mit einem stark schützenden, überbehütendem Verhalten reagieren. Diesem Verhalten wissen die chronisch Kranken oft nicht anders als mit z.T. heftiger Abwehr zu begegnen, wenn "das Maß" voll ist, was in der Regel den Konflikt noch verschärft.

Mit anderen Worten: Viele intrafamiliäre Schwierigkeiten oder Probleme im sozialen Kontakt sind letztendlich die bedauerliche Folge von Mißverständnissen oder fehlender Kommunikation.

In der Therapie wird diesem Aspekt deshalb ein hoher Stellenwert eingeräumt.

In Einzel- und Paargesprächen werden Kommunikationsstile analysiert und hilfreiche Gesprächsstile eingeübt. Was ist dabei zu beachten:

a.. Sprechen Sie offen über Ihre Bedürfnisse, Wünsche und Probleme. Ihr Partner ist schließlich kein Hellseher (auch wenn es gelegentlich ganz angenehm wäre).
b.. Vermeiden Sie Vorwürfe und Formulierungen wie "immer machst Du, nie kümmerst Du Dich, Du verstehst mich einfach nicht". Nach so einer Verallgemeinerung und pauschalen Abwertung vergeht auch dem geduldigsten und verständnisvollstem Menschen die Lust auf weitere Gespräche.
c.. Sprechen Sie in der Ich-Form. Vage Aussagen wie "man könnte ja mal wieder ins Kino gehen" werden nicht immer als Aufforderung oder Wunsch verstanden.
d.. Bitten Sie um Hilfe, wenn Sie diese benötigen. Die meisten Angehörigen sind froh, helfen zu können. Es ist wesentlich anstrengender, die Wünsche und Bedürfnisse des Gegenübers erahnen zu wollen.
e.. Haben Sie keine Angst davor abgelehnt zu werden, wenn Sie einen Wunsch zurückweisen. So wird beispielsweise ein guter Freund / eine gute Freundin, die sich zu Besuch angekündigt hat, Verständnis für Ihre Absage haben, wenn Sie zu erschöpft oder zu beschäftigt sind. Bieten Sie ihr statt dessen einen Ersatztermin an, werden Sie aktiv.
Signalisieren Sie Ihrem Umfeld, daß Sie für Fragen offen sind. Betretenes Schweigen ist selten hilfreich und verstärkt bestehende Unsicherheiten zusätzlich.
f.. Je besser es den Betroffenen gelingt, diese Regeln zu beherzigen, desto mehr Unterstützung und Hilfe können sie von ihrer Umgebung erfahren. Eine chronische Krankheit trifft nicht nur den Betroffenen, das gesamte Umfeld ist "betroffen", muß Pläne ändern, nach Wegen aus der Krise suchen. Dabei können alle Beteiligten jede Unterstützung gebrauchen, die sie erhalten können. Die Familie als Team hat dabei die größten Chancen, einen Lebensstil zu finden, der ein "möglichst normales" Leben erlaubt. Ein Leben mit der Erkrankung und nicht für die Erkrankung.

Gleichzeitig stellt die Zusammengehörigkeit innerhalb der Familie auch die wichtigste Voraussetzung dafür dar, ein gesundes Selbstbewußtsein zu erhalten.

Dipl.-Psychologin Heike Meißner

Redaktion: AMSEL e.V., 22.07.2002