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2 Auslöser verantwortlich für Nervenzellverlust

Erkrankungen mit entzündlicher Neurodegeneration wie Multiple Sklerose besser verstehen: Heidelberger Forscher haben entdeckt, unter welchen Bedingungen Abwehrzellen das Gehirn schädigen.

Erst wenn das Immunsystem des Gehirns doppelt aktiviert wird, vernichtet es körpereigene Nervenzellen. Deutsche Forscher zeigten, dass der körpereigene Botenstoff Interferon-Gamma zusätzlich nötig ist, um den Untergang von Nervenzellgewebe auszulösen.

Ein Forscherteam um Professor Dr. Oliver Kann, Neurophysiologe am Universitätsklinikum Heidelberg, beschreibt erstmals, welche Auslöser Mikrogliazellen dazu bewegen, Nervenzellen zu töten. Überschießende Entzündungsreaktionen im Gehirn wie bei Multipler Sklerose sind weitgehend nicht entschlüsselt. Bekannt ist wohl, und das ist bakteriellen Infektionen wie neurodegenerativen Erkrankungen wie Morbus Alzheimer und Multipler Sklerose gemein: Die Mikrogliazellen richten ihr Feuer gegen andere körpereigene Zellen.

Komplexes Hirnschnittmodell

Die deutschen Forscher konnten nun an einem besonderen Zellgewebsmodell die Interaktion zwischen Mikrogliazellen und den Immunzellen des restlichen Körpers zeigen. In diesem Modell sind nicht nur verschiedene Typen von Hirnzellen vorhanden, sondern ganze Hirnschnitte werden in einem Nährmedium am Leben erhalten. Das ermöglicht es, den hochkomplexen Verband aus Nerven- und Gliazellen, deren Funktionen und Interaktionen über längere Zeit zu beobachten und vor allem die Reaktion auf verschiedene Substanzen zu studieren.

Lipopolysaccharid (LPS), einen Baustein von Bakterienhüllen, erkennen Mikrogliazellen durch den Toll-like-Rezeptor 4 (TLR4). Außerdem reagieren die Zellen auf den körpereigenen Botenstoff Interferon-Gamma, den nur bestimmte Immunzellen von außerhalb des Gehirns, zum Beispiel die sogenannten T-Lymphozyten, bei Kontakt mit Krankheitserregern freisetzen. Im Experiment ließ sich das nachstellen. Die Nervenzellen blieben jedoch weitgehend heil.

Bakterienbaustein PLUS körpereigener Botenstoff

Ganz anders verhielt es sich, wenn beide Substanzen, also LPS und Interferon-Gamma, zusammen in die Petrischale mit dem Hirnmodell wanderten: Die Mikrogliazellen reagierten gewissermaßen über und verteilten eine große Menge an Abwehr- und Entzündungsstoffen. Gift für die Nervenzellen. Sie gingen unter.

Um Bakterien abzuwehren, setzen Mikrogliazellen Stickstoffmonoxid (NO) frei. Gerade dieses Gas lässt Nervenzellen sterben. Also unterdrückten die Forscher die NO-Bildung künstlich mit einem Hemmstoff. Der Versuch gelang: Die Abwehrreaktion war weniger ausgeprägt und die Nervenzellen überlebten.

"Eventuell eröffnet sich damit eine neue therapeutische Möglichkeit, um die Nervenzellen bei entzündlichen Erkrankungen zu schützen", erklärte Professor Kann, Leiter der Arbeitsgruppe Allgemeine Neurophysiologie am Institut für Physiologie und Pathophysiologie.

Interaktionen zwischen T-Lymphozyten und Mikrogliazellen

Bisher ging man nach Studien mit einfachen Zellkulturen davon aus, dass für die Überreaktion der Mikrogliazellen ein einzelner Auslöser, zum Beispiel ein bestimmtes Bakterium ausreiche. Die aktuellen Forschungen legen jedoch nahe, dass zusätzlich die Lymphozyten das Startsignal für eine solche Überreaktion geben müssen.

Bei Multipler Sklerose (MS) und Alzheimer sind zwar keine Bakterien Auslöser. Dennoch könnte dieser Mechanismus auch bei neurodegenerativen Erkrankungen relevant sein: Der Toll-like-Rezeptor 4 (TLR4) der Mikrogliazellen funktioniert nur sehr ungenau und reagiert auch auf ein Eiweiß, das sich bei der Alzheimer-Erkrankung im Gehirn ablagert. Die Mikrogliazellen sind dauerhaft in Alarmbereitschaft. Kommen jetzt noch aktivierte T-Lymphozyten hinzu, insbesondere im Rahmen einer weiteren Erkrankung, startet die Entzündung im Gehirn. Bei Multipler Sklerose sind Interaktionen zwischen T-Lymphozyten und Mikrogliazellen längst bekannt.

Weitere Untersuchungen sind nötig, um den Zusammenhang auch bei anderen Erkrankungen zu klären. Das Forscherteam des 2015 verstorbenen Professors Dr. Uwe-Karsten Hanisch vom Institut für Neuropathologie an der Universität Göttingen war an der experimentellen Studie beteiligt.

Quelle: Pressemitteilung der medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg, 16.02.2016

Redaktion: AMSEL e.V., 17.02.2016