Spenden und Helfen

Gedichte als Therapie

Jede MS ist anders. Das gilt auch für die Strategien zur Bewältigung der Krankheit. Jeder muss seinen individuellen Weg finden, ausprobieren, eventuell anpassen, bis er für ihn oder sie stimmig ist. Marina hat ihren Weg in der Poesie gefunden. Sie schreibt sich die MS von der Seele und macht mit Lesungen anderen Betroffenen Mut.

Abschlussprüfung trotz MS

Marina war gerade mal 20 Jahre alt, stand kurz vor dem Abschluss ihrer Ausbildung zur Groß- und Außenhandelskauffrau, als sie die Diagnose MS bekam. Der Schock saß tief, aber sie rappelte sich schnell auf und setzte ihren „Dickkopf“, den sie eigentlich als eine ihrer Schwächen sieht, gegen die Krankheit ein: trotz Handicap schaffte sie die Abschlussprüfung mit der Note „gut“, wurde von ihrem Ausbildungsbetrieb zunächst übernommen. Mit der Zeit nahmen ihre Einschränkungen jedoch so weit zu, dass auch an einen Teilzeitjob nicht mehr zu denken war. Mit 23 Jahren wurde Marina berentet.

Erste Anzeichen der Krankheit spürte sie Anfang 2013: Taubheitsgefühle beim Beugen des Kopfes nach unten wurden als orthopädisches Problem behandelt und schienen sich zu bessern. Im März stellten sich Blasenprobleme ein. Als im April Gleichgewichtsstörungen und Schwindel hinzukamen, ging Marina zum Hausarzt, der sie umgehend in die Neurologie der Uniklinik Freiburg einwies. Die Diagnose stand binnen Tagesfrist fest. Das war im Mai 2013, der Wendepunkt in ihrem Leben.

Die heute 26-Jährige hat die schubförmige Verlaufsform der MS, den letzten Schub erlebte sie im August 2016. Dass sie seither schubfrei ist, schreibt Marina ihren veränderten Lebensumständen, ihrer psychischen Stabilität und ihrer Medikation zu. Anfangs spritzte sie sich ein Interferon. Allein die Prozedur an sich belastete sie sehr, von den Nebenwirkungen (schmerzende Einstichstellen, Grippesymptome, Schüttelfrost) nicht zu reden.

Nachdem im November 2014 massiv neue Herde in Gehirn und Rückenmark auftraten, wurde sie auf einen anderen Wirkstoff umgestellt, der sich bis heute bewährt hat. Dazu achtet die junge Frau auf gesunde Ernährung mit viel Obst, Gemüse und Fisch, wenig Fleisch, ergänzt um Vitamin D. Regelmäßige Bewegung gehört zu ihrem Wochenprogramm (zwei Mal Physiotherapie, einmal Wassergymnastik und Schwimmen, ab und zu Inline-Skaten). Außerdem möglichst viele Spaziergänge im Wald, den sie direkt vor der Haustür hat und der sie „voll im Jetzt“ sein lässt, wie sie das nennt.

Schmerzen und Spastiken flammen heute noch in Stress-Situationen auf, aber solche Beschwerden schläft Marina meist einfach weg. Als sehr einschränkend empfindet sie die Fatigue, denn nach jeder Aktivität braucht sie ausgiebige Erholungspausen. Dann ist ihr Lieblings- und Rückzugsort ihr Boxspringbett, das sie sich vor einiger Zeit geleistet hat. „Das hat wenigstens keine Ecken und ich bekomme keine blauen Flecken“, lacht sie. Durch die Fatigue leidet ihr Koordinationsvermögen, so dass selbst eine offene Tür noch genügend Fläche zum Anecken bietet.

Überaus wichtig ist der Breisgauerin die seelische Seite: da ist erst einmal ihre glückliche Beziehung mit Martin, mit dem sie seit über acht Jahren zusammen ist und der ihr in jeder Hinsicht den Rücken stärkt. Dann Miezi, eine ziemlich betagte Katzendame, mit der zusammen Marina aufgewachsen ist. Mit ihnen teilt sie ihr Leben in der Nähe von Freiburg.

Lyrik ist ihr Leben

Schulaufsätze und Gedichtinterpretationen hat Marina immer gehasst, geliebt dagegen den spielerischen Umgang mit Sprache und Lauten, den Wohlklang von Reimen. Schon mit 10 Jahren schrieb sie erste Gedichte zu Familienfesten. Mit der Diagnose wurde das Dichten für sie ganz selbstverständlich zur Therapie. Durch ein Fernstudium zum Thema „Das lyrische Schreiben“ perfektionierte sie ihre Technik. „Die MS hat mein Weltbild total verändert. Mit meinen Gedichten habe ich mir viel von der Seele geschrieben, die Krankheit verarbeitet“, sagt sie, „wenn etwas auf dem Papier steht, ist das, als ob ich mein Gepäck abgestellt hätte, dann kann ich loslassen und alles wird leichter.“ Die Gedichte flossen nur so aus ihr heraus. Irgendwann stellte sich die Frage, was damit geschehen sollte. Die Antwort kam von den Zuhörern ihrer ersten Lesung während ihrer Reha im Frühjahr 2015: „Wo kann man das nachlesen?“ Marinas erster Gedichtband erschien im Juli desselben Jahres.

Die Lesungen ergaben sich wie von selbst. Dichten und Lesen wurden ihr so zu Berufung, Lebensaufgabe – und Krankheitsbewältigung.

Woher nimmt die Dichterin ihre Inspiration, ihre Themen? Aus der Natur, den Jahreszeiten, aus dem Leben selbst, immer nahe an den Menschen, ihren Begegnungen, aus Kummer und Sorgen, aber auch Freuden, Erfahrungen tiefer Liebe und Freundschaft. So pathetisch es klingen mag, aber Marina ist überzeugt: „Die Krankheit war mein größtes Geschenk“, denn sie veränderte ihre Lebenseinstellung radikal zum Positiven. Einer ihrer Zuhörer, der sich nach einem schweren Autounfall mit Schädel-Hirn-Trauma und Schlaganfall ins Leben zurückkämpfen musste, brachte es auf den Punkt: „Reich bist du, wenn du im Negativen das Positive siehst.“ Dieser junge Mann, Matthias Storz, hat Marina stark geprägt und ist ihr Vorbild in der Bewältigung ihrer Krankheit.

Die Mutmacherin

Große Dankbarkeit empfindet Marina, wenn sie bei ihren Lesungen beispielsweise bei den AMSEL-Kontaktgruppen Freiburg, Ortenaukreis, Göppingen, in den Schmieder Kliniken Gailingen und Konstanz und im Quellenhof Bad Wildbad andere Betroffene als „Mutmacherin“ mitreißen kann. Dabei zeichnet sie mit ihren Gedichten ihr eigenes Leben nach der Diagnose, ihr neues Lebensgefühl über mehrere Stadien nach: Von den „Steinen“, die einem das Leben in den Weg legt, über „Freundschaft“, die ihr zentraler Wert ist, und „Handicap“ zu „Neuanfang“ und „Hoffnung“. Gerne garniert sie ihre Lesungen mit aktuellen Erlebnissen oder dem humorvollen Gedicht über den „Autoschlüssel“, der sein Versteck partout nicht preisgeben will, obwohl sie ihn so dringend zum Losfahren brauchte. So wird in ihren Lesungen manchmal geweint und oft gelacht. Am Ende steht immer ihr Gedicht „Ich wünsche dir ...“, mit dem sie sich herzlich von ihren Zuhörern verabschiedet.

Die positive Resonanz überwältigt sie jedes Mal aufs Neue. Wobei sie bei den Lesungen ab und zu an die Grenze ihrer Belastbarkeit kommt, denn mit dem Lesen allein ist es nicht getan: In ihr Energie-Management muss Marina An- und Abreise, Transport und Verkauf ihrer Bücher, Fragen der Zuhörer, Signieren und vieles mehr einkalkulieren. Die Begleitung eines Freundes schätzt sie deshalb sehr.

Nach jeder Lesung kehrt die lebhafte junge Frau erfüllt und glücklich zurück in ihre Wohlfühloase zu ihrem zwei- und vierbeinigen Lebensgefährten. Einen Herzenswunsch hätte sie noch: zusammen mit Martin ein gesundes Baby. Aber das muss noch etwas warten, denn vorher will sie einige ihrer Lebensthemen gelöst und ihre MS noch besser im Griff haben, vielleicht sogar eines Tages ganz ohne Medikamente auskommen. Dabei zählt Marina auf die Selbstheilungskräfte ihres Körpers und auf die spirituelle Kraft ihres Glaubens.

Quelle: together 04.19

Redaktion: AMSEL e.V., 06.08.2020