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„Zusammen ist man weniger allein“

Multiple Sklerose betrifft nicht nur den Erkrankten selbst, sondern auch den Partner und die Familie. Im Porträt von "together 04.16" zeigen Daniela und Mutter Andrea, wie sie mit der Diagnose umgegangen sind und wie wichtig es ist, sich auszutauschen.

Daniela ist in Ettlingen geboren und sehr behütet mit ihren Eltern und Großeltern in einem Haus aufgewachsen. Berufsbedingt zog sie weg, um ihren eigenen Weg zu gehen, doch schon nach wenigen Jahren kehrte die junge hübsche Frau in ihre Heimat zurück. "Weil es daheim einfach am Schönsten ist", erklärt sie lächelnd. 2015 gab es gewissermaßen eine Familienzusammenführung, seitdem wohnen wieder alle unter einem Dach. Das Schicksal aber stellte die Großfamilie auf eine harte Probe: 2004 erhält Daniela die Diagnose Multiple Sklerose, 2011 starb ihr Vater an Speiseröhrenkrebs, im selben Jahr auch ihre Oma an Leberzirrhose. Dem Familienzusammenhalt tat das keinen Abbruch, im Gegenteil. "Das Verhältnis innerhalb der Familie war schon immer sehr vertraut gewesen", erzählt die 37-Jährige, "die MS hat uns nur vielleicht noch mehr zusammengeschweißt."

Die Suche nach der Gewissheit

Mit 18 Jahren macht sich die Ettlingerin auf nach Heidelberg, um ihre Ausbildung als Krankenschwester zu machen, kurz darauf nach München, um eine zweijährige, berufsbegleitende Fachweiterbildung für Anästhesie und Intensivpflege zu beginnen. Das Leben der jungen Frau war geprägt von Schichtdienst und Rufbereitschaft, einen geregelten Tagesablauf gab es nicht.

"Ich war eigentlich nur arbeiten und danach total fertig", erinnert sich Daniela. "Aber ich weiß auch gar nicht mehr, wie es ist, nicht müde zu sein", gesteht die sonst so lebensfrohe Frau. "Andere schienen nach der Arbeit noch so viel Energie zu haben, ich hingegen wollte nur in mein Bett. Ich dachte, so bin ich eben." Inzwischen ist die Fatigue eine der größten Barrieren in ihrem Alltag. "Sie ist allgegenwärtig, geht morgens los, wenn man aufwacht, und hört abends auf, wenn man ins Bett geht", beschreibt Daniela das belastende, unsichtbare Symptom. "Verständnis dafür zu bekommen, ist nicht einfach. Und ich setze es auch nicht voraus. Wer das nicht hat, kann das auch nicht verstehen."

Episodenweise traten Symptome wie Taubheit, Drehschwindel oder Sehstörungen auf, die niemand richtig einzuordnen wusste. Auch Dani, wie sie kurz genannt wird, fand anfangs plausible Erklärungen und schob es auf Stress oder Verspannungen. 2004 waren die immer wiederkehrenden Symptome nicht mehr wegzureden. Der Drehschwindel wurde so massiv, dass die damals 25- Jährige nicht mehr arbeiten konnte. Auf einem Auge war sie fast blind. Es folgten Doppelbilder und ein stark ausgeprägter Nystagmus. Ihre Mutter erinnert sich mit Schrecken daran zurück, als die Augen ihrer Tochter nur noch kreisten und keinen Punkt mehr fixieren konnten. Noch am selben Abend fuhren sie in die Klinik, wenige Tage später folgte die Diagnose.

Für Mutter Andrea war die Diagnose niederschmetternd. "Ich habe tagelang nur geheult. Und mir die Frage gestellt, warum das ausgerechnet uns passieren muss." Daniela hingegen war erleichtert, dass es endlich einen Namen für ihre körperlichen Ausfälle gab. "Ich hatte zwischenzeitlich schon das Gefühl, ich bilde mir das alles nur ein." Durch ihre Ausbildung wusste sie, dass MS kein Todes- oder Schwerbehindertenurteil war, sondern eine Autoimmunerkrankung, bei der man etwas tun kann. "Gut war", ergänzt sie, "dass ich gleich darauf in den Quellenhof kam, hier habe ich unheimlich viele Infos bekommen. Da wusste ich, ich bin auf der sicheren Seite und kann in die richtige Richtung arbeiten."

Miteinander reden ist das A und O

"Der Kummer, der nicht spricht, nagt am Herzen, bis es bricht."

William Shakespeare

Die Verarbeitung der Diagnose ihrer Tochter fiel der damals 47-jährigen Mutter sehr schwer. "Es hat viel Zeit und viele Gespräche gebraucht", erzählt sie. "In meiner Mittagspause habe ich immer mit meiner Arbeitskollegin darüber gesprochen. Als ich heim kam, beim Kaffeetrinken mit meinen Eltern und meinem Mann. Es hat mir unheimlich geholfen, alles, was das Herz bedrückt, loszuwerden. Miteinander reden ist sehr wichtig, das A und O." Das gemeinsame Kaffeetrinken am Nachmittag beim Opa ist zum täglichen Ritual geworden, bei dem heute auch Daniela mit von der Partie ist.

Andrea, die als Bürokauffrau in der Stadtinfo Ettlingen arbeitet, wusste anfangs nicht, was MS ist. "Aber ich hatte ja meine Tochter", sagt die 59-Jährige stolz. "Mit ihrem Fachwissen hat sie mir immer alles erklärt. Das gab mir Rückhalt und Sicherheit." Denn von Ärzteseite aus wurde sie nie informiert. Im Austausch mit ihrer Tochter fällt es ihr trotzdem schwer, eigene Ängste anzusprechen, aus Sorge, sie damit zusätzlich zu belasten. Danielas erste Anlaufstelle ist ihr Mann Daniel. Kennengelernt haben sie sich bei der Arbeit in der Frühschicht, er war ihr neuer Kollege in der Krankenpflege. Das Paar ist mittlerweile seit über zehn Jahren glücklich liiert, seit fünf Jahren verheiratet und möchte ebenfalls Kinder. "Daniel ist mein Ruhepol, er holt mich immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurück, wenn ich mal in Panik gerate."

Auch wenn Mutter und Tochter jeweils ihren eigenen Raum für Sorgen und Nöte haben, ist ihr Verhältnis miteinander sehr intensiv und offen. "Wir haben schon immer über alles gesprochen", unterstreicht Daniela. "Die ganze Familie ist mitteilungsbedürftig und neugierig zugleich. Was super zusammenpasst: Einer ist neugierig und der andere erzählt es gerne, weil er mitteilungsbedürftig ist."

Ein Auf und ab der Gefühle

Nach fast 10 Berufsjahren im Gesundheitswesen musste Daniela berentet werden. Denn auch wenn ihre Schübe, die zunächst zweimonatig auftraten, mit Interferonen auf einmal im Jahr hinausgezögert werden konnten, fielen die Beeinträchtigungen oft sehr heftig aus. 2007 war es bislang am schlimmsten. "Da hatte ich eine Halbseitenparese, die komplette linke Seite war gelähmt", berichtet sie, "die Beine funktionierten irgendwann nicht mehr richtig, ich brauchte sogar einen Rollstuhl". Für ihre Mutter war der Augenblick, als Daniela nach zwei Jahren Rollstuhl wieder auf beiden Füßen stand, der schönste nach der Geburt ihrer Tochter. "Was könnte eine Mutter mehr berühren, als zu sehen, dass die eigene Tochter nach so einer schweren Zeit wieder laufen kann?"

Die mit der Halbseitenparese verbundene Spastik setzte der damals 28-Jährigen aber am meisten zu. Oft stach sich die junge Frau mit einer Nadel in ihr rechtes Bein, um sich vom zermürbenden Dauerschmerz im linken Bein abzulenken. "Mein rechtes Bein sah aus wie ein Nadelkissen", fügt sie scherzhaft hinzu. Schmerztherapie und Akupunktur konnten etwas Abhilfe schaffen. Nach einer zweiwöchigen Berufserprobung erhielt die selbstbewusste, starke Frau die volle Erwerbsminderungsrente. "Und die ersten acht Wochen fühlten sich an wie Urlaub", blickt Daniela zurück. "Ich konnte meinen Tagesablauf nach meinem Körper richten, bis mir irgendwann zu langweilig wurde."

Die folgende Zeit war geprägt von depressiven Verstimmungen, doch Daniela rappelt sich auf. Sie sucht sich Aufgaben, wie einen Minijob in einer Steuerkanzlei. "Da hatte ich wieder eine Art Arbeit, konnte das Haus verlassen, Kollegen treffen, mich mit anderen Menschen unterhalten. Das war schön. Auch wenn das gerade mal zwei Stunden waren, hat das meinen Tag erfüllt und ich hatte das Gefühl, nützlich zu sein." Noch im selben Jahr begann sie auch ihre ehrenamtliche Tätigkeit als Sprecherin der Jungen Initiative der AMSEL-Kontaktgruppe Karlsruhe, später bei der Kontaktgruppe Karlsbad-Ettlingen, heute ist sie nach wie vor regelmäßige AMSEL-Bloggerin und in den sozialen Netzwerken der AMSEL aktiv.

"Wer rastet, der rostet"

Daniela ist ein von Grund auf positiver, fröhlicher Mensch, vielseitig interessiert und sucht immer neue Herausforderungen. Ob Tauchen, Walken, Radfahren, Klettern, Bouldern, Feldenkrais, Qigong, Yoga, Kochen, Stricken, Gitarre spielen. Ganz nach ihrem Lebensmotto "wer rastet, der rostet".

Auch wenn sich Andrea manchmal fragt, ob sich ihre Tochter nicht übernehme, lässt sie sie machen. "Sie hatte schon immer ihren eigenen Kopf. Und sie ist alt genug, um selbst zu wissen, wie weit sie gehen kann."

Gemeinsame Aktivitäten mit Freunden wie Kino oder ein Plätzchenbackmarathon und Unternehmungen mit der ganzen Familie sind Daniela sehr wichtig. Sonntags kommen oft ihr Opa und ihre Mutter zu ihr, damit sie für alle kochen kann. Und auf dem weltgrößten Heavy- Metal-Festival Wacken waren sie auch gemeinsam. "Da haben wir Opa zu seinem 77. Geburtstag mitgenommen, der sonst eher Volksmusik und Schlager hört. Und er war begeistert", strahlt seine Enkelin.

Doch auch Auszeiten dürfen nicht fehlen. Im Familien- Generationenhaus gilt die unausgesprochene Regel, wenn der Schlüssel abgesteckt ist, ist man out of order. Dann will jeder seine Ruhe. Daniela genießt es dann, einfach mal nichts zu tun und gemeinsam mit ihren zwei Katzen zu kuscheln. Mutter Andrea liebt es, zu sticken oder ausgiebig zu frühstücken und dabei Kreuzworträtsel zu lösen. Die warmherzige Frau aber schöpft vor allem aus ihrer Tochter Kraft. "Ihre starke Persönlichkeit, mit der sie die Krankheit bewältigt und ihre offene Art beeindrucken und motivieren mich", sagt sie anerkennend und gerührt. "Man muss das Leben nehmen, wie es kommt. Den Tag genießen, wie er ist. Das Beste aus allem machen. Gemeinsam geht es einfacher, zusammen ist man weniger allein."

"together" hören statt lesen

Quelle: AMSEL-Nachrichtenmagazin "together", Ausgabe 04/16

Redaktion: AMSEL e.V., 25.01.2017