Spenden und Helfen

„Wir sind ein gutes Team“

Annett ist eine selbstbewusste und charismatische Frau, die mitten im Leben und Beruf steht. Ihr Mann Sebastian bekam vor drei Jahren die Diagnose Multiple Sklerose, Verlauf primär progredient. Seite an Seite meistern sie den Alltag. Das Internet ist dabei ein großer Teil des Krankheitsmanagements geworden. Und als Angehörige und Expertin in eigener Sache moderiert die 40-Jährige auch seit einem halben Jahr die AMSEL-Facebook-Gruppe speziell für Angehörige MS-Betroffener, um sich auszutauschen und Mut zu machen.

„Denke immer daran, dass es nur eine wichtige Zeit gibt: Heute. Hier. Jetzt.“ Leo N. Tolstoi

Die Krankheit hat Annett und ihren Mann noch näher zusammengebracht. Jeder von ihnen konzentriert sich auf das, worin er stark ist. Sebastian ist sportlich, motiviert und optimistisch: Er macht viele Therapien, bewegt sich und arbeitet aktiv daran, seine Gesundheit zu erhalten. Annett ist eine Powerfrau, ein Organisationstalent und außerordentlich strukturiert: Job, Haushalt, Krankheit. Sie hilft Sebastian, wo sie kann: Essen vorbereiten, Termine ausmachen, Tag koordinieren, Therapien unterstützen oder Hilfsmittel beantragen. Die beiden sind seit sieben Jahren verheiratet; alte Schulfreunde, bei denen es nach vielen Jahren plötzlich gefunkt hat.

Die Pläne am Anfang ihrer Ehe sahen anders aus. Beide waren erfolgreich im Job, hatten einen großen Freundeskreis und sind viel gereist. Doch dann kam plötzlich alles anders: Im Juni 2015 wurde bei Sebastian primär progrediente Multiple Sklerose diagnostiziert. Diese schwere Form der MS ist durch einen kontinuierlich fortschreitenden Verlauf ohne akute Schübe oder Phasen mit nachlassenden Symptomen gekennzeichnet. „Die Diagnose war ein Schock“, erinnert sich Annett, „vor allem, als wir erfahren haben, dass dieser Verlauf bisher nicht mit Medikamenten therapierbar ist“.

Die MS gibt den Takt vor

Seit der Diagnose bestimmt die MS ihren Alltag. Sebastians zahlreiche Symptome wie Gangataxie, Spastiken, Schmerzen oder Fatigue sind unberechenbar und verstärken sich im Tageslauf oft ohne Ankündigung. Der Verlauf ist so rasch, dass die Abläufe im Alltag, die Hilfsmittel und die Therapien häufig angepasst werden müssen. „Der primär progrediente Verlauf ist eine spezielle Herausforderung, die permanent da ist, sich immerzu verändert und uns erschöpft. Nichts ist mehr planbar, wir müssen ständig neu überlegen und uns umorganisieren.“, erklärt Annett, „zum Beispiel haben wir jetzt alle Therapeuten in fußläufiger Entfernung, sodass mein Mann nicht mehr mit dem Auto hinfahren muss.“ Das Paar wohnt in Fellbach. Hier ist Annett im Kreis einer großen Familie – mit ihrer Schwester, ihren Eltern und beiden Großeltern – aufgewachsen. Nach einer Banklehre und einem BWL-Studium mit Schwerpunkt Controlling und Finanzen zog es die junge Frau erst einmal ins Ausland. Sie arbeitete ein Jahr in Dublin, anschließend vier Jahre in Zürich. Dann holte die Liebe zu Sebastian sie zurück in die Heimat. Seit drei Jahren arbeitet die sympathische Frau in Stuttgart bei einem Unternehmen als Assistentin des Finanzvorstands. Dort weiß man um ihre persönliche Situation: „Mein Arbeitgeber kam mir entgegen, so dass ich einmal die Woche im Homeoffice arbeiten kann.“ Sebastian ist 41 Jahre alt, er arbeitet noch vier Stunden am Tag als Kundenberater im Bauwesen, vorwiegend am Schreibtisch, aber teils auch im Außendienst. Nach zwei Arbeitsstunden kann er sich in einem Ruheraum der Firma ausruhen. Nach der Arbeit beginnen an vier Tagen in der Woche die Therapien, der fünfte Tag ist für Besuche bei Ärzten oder für Beratungstermine reserviert. Annett ist bei den wichtigen Terminen dabei. Wie in ihren Beruf hat sie sich auch gewissenhaft und umfänglich in das Thema Multiple Sklerose eingearbeitet, ein neues Netzwerk aufbauen müssen. „Es läuft jetzt alles besser, weil wir nun überall Ansprechpartner haben: Rentenversicherung, Krankenkasse, Pflegeversicherung, Psychologe, Neurologe, Fachärzte, Beratungsstellen, Ergo- und Physiotherapeuten – sobald ein Problem auftaucht, weiß ich, an wen ich mich wenden muss. Wenn ich strukturiert an Herausforderungen rangehe, gibt mir das Sicherheit. Die digitale Welt hilft mir außerdem, mich schneller und selbstständig zu informieren und Wissen aufzubauen. Dadurch kann ich in Bezug auf die Krankheit mit Ärzten, Therapeuten und Kostenträgern auf Augenhöhe sprechen“, resümiert sie zufrieden.

Engagement in eigener Sache

Seit drei Jahren sind Annett und ihr Mann Mitglied bei der AMSEL, die sie vor allem in der Anfangsphase von Sebastians Krankheit bei einer Vielzahl von Themen unterstützt hat. „Wir haben viele Beratungen und Seminare besucht und irgendwann hat mich die AMSEL gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, eine neue Facebook-Gruppe zu moderieren“, erzählt Annett. „Ich habe ja gesagt, denn ich möchte gerne etwas zurückgeben. Anderen Angehörigen zeigen, wie wichtig es ist, sich mit anderen Angehörigen auszutauschen.“ Die Gruppe „Multiple Sklerose und Angehörige“ gibt es seit November 2017. Es ist eine geschlossene Community, speziell für Angehörige von MS-Erkrankten. Die Gruppe ist für alle Facebook-Nutzer sichtbar, aber nur die Gruppenmitglieder können Beiträge sehen, schreiben, kommentieren und sich über räumliche und Altersgrenzen hinweg offen austauschen und Gesprächspartner finden. „Hier sind Angehörige unter sich, können sich von der Seele reden, was sie belastet, aber auch Tipps, Mut und Zuspruch finden“, fasst Annett den Gewinn der Gruppe zusammen, die sie mit aufgebaut und ins Laufen gebracht hat. „Ich kümmere mich um die Aufnahme neuer Mitglieder, schaue, dass dort ein respektvoller Ton gewahrt wird und bringe immer mal wieder neue Themen rein, mache auf Links, Ansprechpartner oder Veranstaltungen der AMSEL aufmerksam.“ Die Gruppe hat zurzeit schon über 400 Mitglieder und wächst stetig. „Und das Schöne ist“, fügt die Moderatorin hinzu, „dass aus den virtuellen Kontakten manchmal auch persönliche Kontakte im realen Leben werden.“ Für die Fellbacherin ist ehrenamtliches Engagement nicht neu, es war immer ein bedeutender Teil ihres Lebens gewesen, jetzt aber habe sich der Schwerpunkt verändert: „Früher habe ich Kontrabass gespielt, war als Vorsitzende des Fellbacher Kammerorchesters und in der Kulturgemeinschaft aktiv, habe für den Gemeinderat kandidiert. Heute ist Krankheitsmanagement im Fokus“, sagt Annett reflektiert. „Bei der knappen Zeit, die mir täglich bleibt, möchte ich mich für ein Thema einsetzen, dass sich mit der MS verbinden lässt. Da kenne ich mich aus und erlebe regen Austausch, der auch mir guttut.“

Das Leben neu ausrichten

Auch die Schwerpunkte im Leben haben sich verändert. Nach dem ersten Schock im Jahr nach der Diagnose versuchen beide jetzt, die Krankheit positiv anzunehmen und das Beste daraus zu machen. Schwierig ist, dass alle Aktivitäten tagesformabhängig sind und nicht mehr wirklich planbar. Aus Unbeschwertheit ist Organisationsvermögen geworden. Aus großen Zielen, Freude an den kleinen Dingen im Leben. Der Radius hat sich von Reisen zu Freunden in der ganzen Welt auf Strecken von ein bis zwei Stunden Fahrzeit reduziert. Tage am Bodensee oder im Schwarzwald können beide ohne Stress genießen. „Wir versuchen am sozialen Leben teilzuhaben, wenn auch in abgespeckter Form. Und wir suchen uns kleine Auszeiten: Ich spiele Klavier und Flöte und liebe es, wenn mein Mann Gitarre spielt, am liebsten Elvis-Interpretationen. Und ich habe Kochen als Hobby entdeckt“, erzählt Annett stolz. Und auch wenn aus ihrem Kindheitstraum, einmal Tierpflegerin zu werden, nichts geworden ist, ist die Liebe zu Tieren geblieben. „Lucky“, so der Name ihres Hundes, ist seit 2013 ein sehr wichtiger Teil des gemeinsamen Lebens geworden. Der Labrador ist zwar kein ausgebildeter Therapiehund, verhält sich aber wie einer. Er ist lieb, ruhig und ein treuer Begleiter, kuschelt gerne, hält beide aber auch in Bewegung. Wenn Außenstehende Annett sagen, wie sehr sie ihren Umgang mit der Krankheit ihres Mannes bewundern, mag sie dieses Lob gar nicht annehmen: „Für mich ist es selbstverständlich, dass wir die Situation so bewältigen, wie wir es tun. Ich kenne es aus meiner Familie so, dass man sein Schicksal annimmt und für den anderen da ist. Wir leben von Tag zu Tag, genießen die kleinen Dinge, teilen aber auch unsere Ängste vor der Zukunft. Wir haben schon so viele Schritte gemeinsam bewältigt, dass wir auch kommende meistern werden“, ist Annett zuversichtlich.

 

Quelle: AMSEL-Nachrichtenmagazin "together", Ausgabe 02.18

Redaktion: AMSEL e.V., 03.07.2018