Spenden und Helfen

Wenn Mutter und Vater MS haben

Kim-Ina ist 11 Jahre alt und besucht die 6. Klasse eines Gymnasiums in Bremen. Sie ist Klassensprecherin, hat eine beste Freundin namens Rebecca, Jungen findet sie albern: Alles total normal? Nicht ganz, denn Kim-Inas Eltern sind beide an Multipler Sklerose erkrankt.

Kim-Ina liest sehr gerne, beispielsweise "Harry Potter". Fernsehen wird dosiert, da sind die Eltern streng. Außerdem schreibt Kim-Ina eigene kleine Geschichten. Jetzt hat sie sich Großes vorgenommen, ein richtiges Abenteuerbuch soll entstehen. Viel verrät sie im Gespräch mit dem DMSG-Bundesverband noch nicht, ein bisschen geheimnisvoll verkündet sie: "Es geht um einen Fluch und wenn ich es fertig geschrieben habe, dann soll es richtig gebunden werden." Einen festen Termin hat sie sich dafür nicht gesetzt, denn ihr Tag ist ziemlich ausgefüllt, da bleibt nicht allzu viel Zeit.

Schließlich muss sie sich, neben Schule, Hausaufgaben und Sport, auch um Dipsy, ihre zweijährige Katze kümmern. Hier trägt sie die Verantwortung: Sie muss Dipsy füttern und mit ihr spielen und schmusen. Auch die regelmäßige Säuberung des Katzenklos gehört zu Kim-Inas Aufgaben – das war die elterliche Bedingung, bevor Dipsy Einzug in die Hochhauswohnung halten durfte, in der Kim–Ina mit ihren Eltern, Dr. Pia und Otto Marks, wohnt.

Bei ihrer Mutter, Dr. Pia Marks, die bis 1996 an der Bremer Universität als promovierte Molekularbiologin tätig war, traten 1979 mit Gleichgewichtsstörungen und extremer Müdigkeit die ersten Symptome auf. Doch erst elf Jahre später, als nach einem Sportunfall ein MRT gemacht wurde, erhielt sie die Diagnose. Die MS trat schubförmig auf. Jedoch blieben nach den Schüben immer mehr Beeinträchtigungen zurück, sodass die heute 51-jährige vor 14 Jahren ihre Berufstätigkeit aufgeben musste und inzwischen weitgehend auf den Rollstuhl angewiesen ist. Kim-Inas Vater, Otto Marks, weiß seit 1992, dass er an Multipler Sklerose erkrankt ist. 1984 hatte sich die Krankheit erstmals durch Drehschwindelanfälle bemerkbar gemacht. Otto Marks, der für die Wartung von Verkehrssignalanlagen zuständig war, musste sich im Jahr der Diagnosestellung berenten lassen, da er unter anderem nicht mehr auf eine Leiter steigen konnte.

Familie und Freunde unterstützen

Pia und Otto Marks hatten sich bereits 1979 kennengelernt, doch beide waren zum damaligen Zeitpunkt anderweitig liiert und verloren sich daher aus den Augen. Die DMSG führte sie sozusagen wieder zusammen, denn in der MS-Neuerkranktengruppe in Bremen trafen sie sich erneut. 1996 wurde geheiratet, Kim-Ina kam 1999 auf die Welt. "Wir haben uns die Entscheidung für ein Kind nicht leicht gemacht. Wir haben uns intensiv beraten lassen, insbesondere was eine mögliche Vererbbarkeit der MS betrifft. Doch man sagte uns, MS sei keine Erbkrankheit. Außerdem haben wir Familie und Freunde gefragt, ob sie gegebenenfalls einspringen würden, wenn wir unsere Tochter zeitweilig nicht versorgen könnten".

Und was sagt Kim-Ina, die so quirlig ist, so gerne radelt, Rollschuh läuft, schwimmt und als Judoka in Kürze den gelb-orangefarbenen Gürtel erwirbt, zu einem Elternpaar mit Handicap? Sie überlegt einen Moment und sagt dann: "Ich bin doch in die Situation mit MS hineingewachsen. Ich weiß ja, dass Manches nicht geht, oder plötzlich nicht mehr geht. Wenn die Fatigue auftaucht, dann bin ich schon manchmal traurig, weil dann etwas, auf das ich mich gefreut habe, einfach ins Wasser fällt. Aber eigentlich komme ich gut zurecht. Und Dinge, die mit Mama und Papa partout nicht zu machen sind, die unternehme ich dann mit Freunden oder meinen großen Stiefgeschwistern".

Gut eingespieltes Team

Für Pia Marks ist es schwer zu beurteilen, wie ihre Tochter die Krankheit der Eltern letztlich verarbeitet. "Manchmal hat sie spezielle Ängste, die ihren Körper betreffen. Ich denke, sie fürchtet, dass er einmal genauso beschädigt sein könnte wie meiner."

Kim-Ina ist auch neugierig, möchte wissen, was es mit der Multiplen Sklerose auf sich hat. Auf Recherchetour begibt sie sich aber nicht allein, sondern forscht im Internet gemeinsam mit den Eltern. Redet sie mit ihren Freundinnen über Multiple Sklerose? Sie winkt ab: "Nö, das ist überhaupt kein Thema, wir sprechen gar nicht darüber." Worüber sie sich aber schon ab und zu mal unterhalten, sind Kim-Inas Rollstuhlkünste. Angesichts der Professionalität mit der Kim-Ina sich im Rollstuhl bewegt, schauen die Freundinnen schon ein wenig neidisch. "Rollstuhl fahren macht richtig Spaß. Am liebsten schiebe ich den Rollstuhl einen Hügel herauf und sause dann wieder herunter", erzählt Kim-Ina mit leuchtenden Augen. Wenn Mutter und Tochter gemeinsam einen Spaziergang machen oder zum Einkaufen fahren, dann übernimmt Kim-Ina die Rollstuhl-Regie. "Wir sind ein wirklich gutes Rollstuhl-Team", das haben die beiden schon oft festgestellt. Als Kim-Ina noch jünger war, hat sie die mangelnde Mobilität der Mutter auch ganz gerne einmal ausgenutzt und sich versteckt. "Da wird einem die eigene Hilflosigkeit doch sehr bewusst", erinnert sich Pia Marks.

Ein eingespieltes Team

Kim-Ina ist ein großer Playmobil- und Legofan. Hin und wieder kann sie ihre Mutter überreden, sich zu ihr auf den Boden zu setzen und dann wird fröhlich drauf los gespielt. Das Aufstehen ist für Pia Marks anschließend allerdings eine besondere Herausforderung, aber Kim-Ina kann da schon prima helfen. "Ich habe eine richtig gute Strategie meine Mutter aufzuheben, das gilt auch, wenn sie mal fällt."

Pia Marks setzt sich seit vielen Jahren sehr engagiert für die Belange MS-Erkrankter und ihrer Angehörigen ein, seit 1998 vertritt sie den DMSG-Landesverband Bremen im Bundesbeirat MS-Erkrankter, im vergangenen Jahr wurde sie in der internationalen MS-Organisation Multiple Sclerosis International Federation (MSIF) ins "Persons with MS International Committee" gewählt und hat erstmals für die DMSG an der Jahrestagung der MSIF, die in Chicago stattfand, teilgenommen. Kim-Ina ist stolz darauf, dass ihre Mutter so aktiv ist, auch wenn das gelegentlich einige Tage Trennung bedeutet. Und für Pia und Otto Marks ist es, auch wenn zum allgemeinen Erziehungsstress, den alle Eltern kennen, noch manch MS-bedingten Anstrengungen und Probleme dazu kommen, einfach wunderbar, ein Kind zu haben.

Über das Familienleben aus Sicht einer MS-erkrankten Mutter berichtet Dr. Pia Marks im Interview mit AMSEL und DMSG-Bundesverband. "Wie sag ich´s meinem Kind?" lautet der Titel des Podcasts, den Sie ab Freitag, 15. Oktober, auf www.amsel.de sehen können.

Quelle: DMSG Bundesverband e.V. - 8. Oktober 2010

Redaktion: AMSEL e.V., 11.10.2010