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Schmerzen bei Multipler Sklerose

Die Multiple Sklerose ist keine schmerzfreie Erkrankung, wie lange Zeit behauptet wurde. Was sind die Ursachen für den Schmerz? Welche Therapien gibt es? Wie können Betroffene damit umgehen?

Eine brennende Hautoberfläche, stechende Schmerzen im Gesicht, Muskelkrämpfe, ständige Rückenschmerzen, unangenehme Druckempfindungen am Rumpf: Etwa 50% der MS-Betroffenen berichten über sehr unterschiedliche Schmerzerfahrungen, welche die Lebensqualität zum Teil massiv beeinträchtigen.
Es gibt Schmerzen, die eine direkte Folge der Multiplen Sklerose sind. Dazu gehören einerseits akute Schmerzsyndrome, wie die Trigeminusneuralgie, die tonischen Halbseitenkrämpfe und das Lhermitte-Phänomen (elektrisierendes Gefühl beim Nackenbeugen).
Viel häufiger sind jedoch chronische Schmerzen wie Muskelspasmen oder Missempfindungen. Sie machen etwa 50-80% aller Schmerzsyndrome bei MS aus.
Auch die "Durchschnittsbevölkerung" kennt das Problem. Migräne, alters- und abnutzungsbedingter Gelenk- und Wirbelsäulenverschleiß, rheumatische Erkrankungen usw. können natürlich auch zusätzlich und unabhängig von der MS auftreten.
Daneben gibt es auch eine Reihe von Schmerzen, die nicht direkt durch die MS ausgelöst werden, sondern deren indirekte Folge sind. Beispiele dafür sind die schmerzhafte Blasenentzündung, Rückenschmerzen durch schlecht angepasste Rollstühle oder Schmerzen durch Wundliegen.

Der akute Schmerz

Das häufigste Schmerzsyndrom bei der MS ist die Trigeminusneuralgie. Das sind äußerst heftige, Sekunden dauernde Schmerzattacken in der oberen Gesichtshälfte. "Wie ein Messerstich ins Gesicht" beschreiben sie Betroffene. Manchmal reicht eine leichte Berührung im Gesicht, Kauen oder Sprechen, um die Schmerzen auszulösen. Zwischen den Anfällen sind die Betroffenen meist beschwerdefrei. In seltenen Fällen kommt es zu länger andauernden Gesichtsschmerzen.
Akute Schmerzsyndrome sind durch das anfallartige Auftreten charakterisiert. Die Ursache ist eine außergewöhnliche elektrische Erregbarkeit der demyelinisierten Nerven. Spontan oder durch bestimmte Bewegungen entstehen an einzelnen Stellen, an denen das Myelin beschädigt ist, fehlerhafte elektische Entladungen. Diese greifen dann auf ein ganzes Nervenbündel über.
Bildlich ausgedrückt, kann man es sich so vorstellen, dass es zu einem Kurzschluss zwischen zwei nicht isolierten elektrischen Drähten kommt. Für die Behandlung der Trigeminusneuralgie werden Medikamente wie Carbamazepin, Phenytoin oder Clonazepam eingesetzt, welche die elektrische Übererregbarkeit der Nerven herabsetzt.

Chronische Schmerzen

Die häufigsten chronischen Schmerzen, die durch die MS ausgelöst werden, sind neurogene Schmerzen. Sie werden auch Dyästhesien oder Missempfindungen genannt. Häufig hat dieser Schmerz einen brennenden, stechenden oder beklemmenden Charakter. "Ich stand bis zur Brust im Höllenfeuer", schreibt die MS-Betroffene Karin Fried in ihrem Erfahrungsbericht "Flieg weiter, Schmetterling". Andere MS-Betroffene sprechen von einem "engen Eisenpanzer um den Brustkorb" oder sie sagen: "Es ist, wie wenn ich ständig auf einem Tennisball sitzen würde", "die Haut ist so empfindlich, dass ich nicht mal ein Streicheln ertragen kann!"
Neuogene Schmerzen entstehen wahrscheinlich, wenn die Filterfunktion bestimmter Nervenbahnen im Rückenmark durch die Demyelinisierung wegfällt und andere Nervenfasern das Hirn hemmungslos mit unangenehmen, schmerzhaften Informationen "bombadieren". Schmerzen dieser Art sind leider medikamentös sehr schwer behandelbar, die "normalen" Schmerzmittel helfen nicht. Häufig werden Antidepressiva oder Antikonvulsiva eingesetzt. Das kann bei Patientinnen und Patienten zu Missverständnissen führen. Ohne weitere Informationen des Arztes denken sie, dieser vermute psychische Probleme oder Epilepsie als Ursache der Schmerzen. Die Präparate wie z.B. Laroxyl oder Tegretol werden jedoch eingesetzt, weil sie auf die beteiligten Substanzen und Wirkmechanismen des Schmerzgeschehens Einfluss nehmen.

Manchmal werden neurochirurgische Eingriffe empfohlen, bei denen gewisse zentrale Schmerzbahnen durchgetrennt werden. Sie führen allerdings nicht immer zum gewünschten Erfolg.

Schmerzen als indirekte Folge der MS

Viele MS-Betroffene klagen über ständige Rückenschmerzen. Diese können eine ganz "einfache" Ursache haben: der schlecht angepasste Rollstuhl! Oft wird nicht genügend Zeit aufgewendet, um den Rollstuhl sorgfältig anzupassen. Manchmal hängen nach längerem Gebrauch die Rückenlehne und die Sitzfläche durch. Dadurch und auch weil die Rückenmuskulatur durch die Erkrankung geschwächt ist, beugt sich der Oberkörper nach vorne. Als Ausgleichsversuch werden Hals und Nacken gestreckt, was zu einer ungünstigen Belastung der Wirbelsäule und damit zu vorzeitigen Abnutzungserscheinungen der Wirbelgelenke führt.
Die nicht immer behindertengerecht gestaltete Umwelt - vom stehenden Gesprächspartner bis zum zu hohen Lichtschalter - fördert zusätzlich diese schmerzerzeugende Haltung. Deshalb ist es besonders wichtig, dafür zu sorgen, dass Hilfsmittel regelmäßig von Fachleuten kontrolliert und immer wieder neu angepasst werden. Ganz wichtig ist zudem die gezielte sportliche Betätigung und Physiotherapie. Beides hilft, möglichen Schädigungen der Wirbelsäule durch Fehlhaltungen oder Bewegungsmangel vorzubeugen.

Nicht objektiv messbar

Schmerz ist eine subjektive Empfindung. Nicht immer sind Gewebeschädigungen nachweisbar. Und wenn sie nachweisbar sind, erleben Betroffene die gleiche Schädigung mehr oder weniger intensiv. Trotz zahlreicher Versuche, die Schmerzstärke- und toleranz festzulegen, gibt es bis heute keine Möglichkeit, Schmerz objektiv zu messen. Schmerzempfindungen bestehen einerseits aus Schmerzreizen, andererseits gehen sie mit bestimmten Gedanken, Gefühlen und typischen Verhaltensweisen einher. Sie bringen andere Symptome wie z.B. Schlafstörungen, Appetitmangel, Verlust sexueller Bedürfnisse und Reizbarkeit mit sich. Zudem gibt es nachweislich einen Zusammenhang zwischen chronischen Schmerzen und psychischen Symptomen wie z.B. Angst und Depression. Sie bedingen und verstärken einander gegenseitig.

Alles kreist um den Schmerz

Betroffene versuchen allem auszuweichen, was möglicherweise den Schmerz auslösen oder verstärken könnte, und entwickeln Vermeidungsstrategien. Oft fallen dann genau diejenigen Aktivitäten weg, die bis dahin Spaß gemacht oder abgelenkt haben. Im Extremfall richtet sich das ganze Denken und Handeln auf den Schmerz aus.
Viele Schmerzpatientinnen und -patienten sind dauernd auf der Suche nach erfolgreichen Behandlungsmethoden. Viele davon nützen nichts oder weniger. Der Hoffnung folgen die Enttäuschung und das Gefühl der Hilflosigkeit. Es macht sich Unsicherheit breit wie man sich der Familie und den Ärzten gegenüber verhalten soll. Oft verhindern auch gewissen Vorstellungen eine angemessene Schmerzbehandlung, wie z.B.: "Ein richtiger Mann hält Schmerzen aus." oder "Man muss halt die Zähne zusammenbeißen."
All diese Erfahrungen mit starken chronischen Schmerzen können zu einem Teufelskreis aus Schmerzen, Hilflosigkeit, negativem Lebensgefühl, möglicherweise sogar Depression und Rückzug führen.

Die Schmerzbehandlung

Die neuesten Ergebnisse der Schmerzforschung machen deutlich, dass chronische Schmerzen schnell, intensiv und umfassend behandelt werden müssen. Sind wir dauernd Schmerzreizen ausgesetzt, baut sich ein so genanntes "Schmerzgedächtnis" auf. Diese Hirnregionen melden dann noch Schmerzen, wenn die Impulse längst unterbunden sind. Ein Beispiel dafür ist der Phantomschmerz. Dauernde Schmerzreize führen zudem im Rückenmark zu einer Vermehrung der Schmerzrezeptoren. Das Schmerzempfinden wird dadurch massiv verstärkt.
Die moderne Schmerzbehandlung hat zum einen das Ziel, diese Chronifizierungsprozesse zu vermeiden, und zum anderen den oben beschriebenen Teufelskreis der Schmerzen zu durchbrechen. Eine umfassende Schmerzbehandlung möchte

  • Gewebeschädigungen, die Schmerzen auslösen oder Folge des Schmerzes sind, soweit dies möglich ist, behandeln,
  • mit Medikamenten und Lokalanästhetika den Schmerz lindern und erträglicher machen, bzw. für schmerzfreie Zeiten sorgen,
  • durch Bewegungstherapie und physiotherapeutische Behandlung Folgen und Ursachen der Schmerzen günstig beeinflussen,
  • psychologische Möglichkeiten zur Beeinflussung der Schmerzen mit Hilfe bestimmter Techniken verändern,
  • über die Zusammenhänge zwischen chronischen Schmerzen und psychosozialen Faktoren aufklären,
  • Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensqualität ermöglichen.

Die Ursachen und Auswirkungen chronischer Schmerzen sind vielfältig und komplex. Viele Faktoren wirken zusammen. Wo es viele verschiedene Einflussfaktoren gibt, gibt es auch viele Ansätze, chronische Schmerzen zu beeinflussen. Völlige Schmerzfreiheit kann meist nicht erreicht werden. Ziele sind eine Linderung der Schmerzintensität, eine bessere Schmerzbewältigung und die Steigerung der Lebensqualität. Dazu braucht es die aktive Mitarbeit von Ärzten und TherapeutInnen verschiedener Fachrichtungen. Vor allem braucht es informierte Betroffene, die sich aktiv an ihrem Behandlungskonzept beteiligen und offen sind für einen Ansatz, der nicht ausschließlich aus medikmentöser Therapie besteht.

Mit freundlicher Genehmigung der SMSG aus fortissimo

Redaktion: AMSEL e.V., 21.02.2005