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Rollstuhlversorgung bei Patienten mit Multipler Sklerose

03.03.08 - Darüber berichten Klaus Gusowski, Ltd. Physiotherapeut, und Florian Schlegel, Ltd Rollstuhlabteilung, aus dem Quellenhof in Together-Ausgabe 01/2008.

Bei einem Krankheitsbild wie der Multiplen Sklerose, die schubförmig oder chronisch verlaufend die Möglichkeiten der Patienten zur Fortbewegung beschränken kann, wird dem Betroffenen häufig nahe gelegt, sich für einen Rollstuhl als Hilfsmittel zu entscheiden. Dieses Angebot führt nicht selten zu einer erschreckten Ablehnung. Klaus Gusowski, leitender Physiotherapeut im Neurologischen Rehabilitationszentrum Quellenhof in Bad Wildbad GmbH, möchte in diesem Artikel zeigen, dass sehr konkrete Überlegungen zu diesem Vorschlag führen, auch wenn es für den Betroffenen zunächst so nicht erkennbar ist.

Wann ist ein Rollstuhl sinnvoll?

Der Wert 7.0 auf der EDSS-Skala beschreibt, dass der Untersuchte weitgehend an den Rollstuhl gebunden ist. Bevor ein Patient jedoch diesen Wert erreicht, setzt die Überlegung an, ob ein Rollstuhl als Hilfsmittel nicht die Lebensqualität erhöhen, die Kräfte sparen und damit für den Alltag Ressourcen eröffnen kann. Ein Beispiel: Zum Einkauf eines Kleidungsstücks muss eine Strecke von mehreren hundert Metern vom Parkplatz bis zum Einkaufszentrum zurückgelegt werden. Das bedeutet, dass für einige Patienten die Kräfte bereits aufgezehrt sind, bevor der eigentliche Anlass der Kraftanstrengung beginnt: die Auswahl und Anprobe der Kleidungsstücke.

Aus der Erfahrung des staatlich geprüften Physiotherapeuten und des Quellenhof-Teams sind Betroffene mit Fähigkeits- und Funktionsstörungen mit speziell angepassten Hilfsmitteln zu versorgen, um den Erfolg einer Krankenbehandlung zu sichern oder die Behinderung auszugleichen. Eine klare medizinische Begründung ist jedoch immer Voraussetzung.

Welcher Rollstuhl ist der richtige?

Bei vorhandener Armkraft und Handfunktion bietet sich ein leichter angepasster Adaptiv-Rollstuhl an, der selbständig bedient wird und bei Bedarf auch von einer Hilfsperson geschoben werden kann. Der Vorteil liegt auf der Hand: Der Weg zum Einkaufszentrum wird kraftsparend bewältigt und die Energie für einen Einkaufsbummel oder – in einem anderen Fall beispielsweise für die berufliche Tätigkeit – ist noch vorhanden. Sich allerdings bei einer so guten Gehfähigkeit ausschließlich auf den Rollstuhl zu verlassen und die tägliche Wegstrecke dadurch einzuschränken, macht keinen Sinn. So ist der Rollstuhl bei gut erhaltener Gehfähigkeit eher für weite Strecken einzusetzen, während die kurzen Wege in Haus und Beruf weiter zu Fuß erledigt werden. So erhält sich der Patient diese hohe Körperaktivität.

Eine weitere Möglichkeit zur Ausrüstung unserer Patienten ist der Leichtgewichtrollstuhl. Hier steht die eigenständige Bedienung nicht im Vordergrund. Vielmehr übernimmt eine Hilfsperson den Vortrieb. Der Rollstuhl hat eine höhere Rückenlehne, Armlehnen, Trommelbremsen und höhenverstellbare Schiebegriffe für die Hilfsperson.

Allgemein ist es ratsam, einen Rollstuhl mit anpassbarem Rücken auszurüsten, sollte die Rumpf- und Oberkörpermuskulatur in ihrer Kraft gemindert sein. Dabei kann die Rückenlehne individuell auf seinen Benutzer angepasst werden.

Rollstuhltraining*

Die Bedienung eines Rollstuhls setzt eine gewisse Fertigkeit im Umgang mit diesem Hilfsmittel voraus. Auf die Fragen "wie bewältige ich eine Bordsteinkante?", "wie verhalte ich mich bei Steigung-Gefälle?","was mache ich, wenn ein schräger Fußweg den Rollstuhl ständig zur Seite zieht?", "welcher Rollstuhl ist für mich der richtige?" usw., gibt es nur eine Antwort: die Rollstuhlabteilung des Quellenhofs.

Eigens dafür ausgebildete Fachübungsleiter, die selbst in der Bedienung des Rollstuhls erfahren sind, leiten den Patienten an, mit dem für ihn sinnvollen Modell umzugehen. Dabei werden – mit entsprechender Sicherung – sowohl ein Kipp- und Stufentraining als auch ein Indoor- sowie Outdoor-Fahrtraining absolviert.

Ziele des Trainings sind:
- Steigerung der Geschicklichkeit im Umgang mit dem Hilfsmittel
- Verbesserung der Ausdauerleistung beim Rollstuhlgebrauch
- Vorbereitung der bedarfsorientierten Versorgung
- Beratung und Schnupperkurs für Fußgänger, deren Aktionsradius unter 500 m liegt
- Beratung und Training zum Elektrorollstuhl sowie Überprüfung der Fahreignung (in Zusammenarbeit mit der Abteilung für Neuropsychologie)

Ohne dieses Training wird die Bedienung des Rollstuhls nicht nur unnötig anstrengend, sondern unter Umständen sogar riskant. Eine leichte Bauweise des Rollstuhls ist sinnvoll, denn auch dieses Gewicht muss natürlich vom Insassen bewegt werden.

Leider ist festzustellen, dass die Benutzung des teuren Hilfsmittels Rollstuhl oft nicht richtig erlernt wurde und die Rollstühle häufig mangelhaft angepasst sind. Zu weite Sitzbreite, zu hohe Rückenlehne oder zu schwere Rollstühle (durch unnötiges Zubehör) stellen häufig eine zusätzliche Behinderung für die Patienten dar.

Der Bereich der Rollstuhlabteilung wird von zwei hierfür ausgebildeten Fachübungsleitern für Rehabilitationssport in der Neurologie geleitet. Bei der Hilfsmittelberatung wird Wert darauf gelegt, dass der Patient seine Bedürfnisse zukünftig richtig einschätzen kann und somit teure Fehlversorgungen verhindert werden.

Rollstuhl-Ausrüstung

Ist die Armkraft reduziert und die Handfunktion der Patienten eingeschränkt, kann ein Rollstuhl mit einem Restkraft verstärkenden Antrieb ausgerüstet werden. Der Vorteil: Die Arme erhalten ihre Restmobilität. Das bedeutet einen zwar reduzierten, aber immer noch wirksamen Effekt zur Erhaltung der Kraft und Koordination im Rumpf und den oberen Extremitäten. Mit diesem Zusatzantrieb lassen sich auch Steigungen bis zu einem gewissen Grad bewältigen – ein Vorteil, den der Benutzer zu schätzen weiß. Zwischen den einzelnen Elektroantrieben gibt es eine ganze Palette von unterschiedlichen Ausrüstungsmöglichkeiten, die individuell auf den Patienten angepasst werden müssen. Elektrische Zusatzantriebe wie Restkraftverstärker, mittels Joy-Stick geführte Elektroantriebe, elektrische Zuggeräte wie z. B. der Swiss-Trac oder Speedy Elektra kommen je nach körperlicher Voraussetzung, kognitiven Fähigkeiten, häuslichen Gegebenheiten und den Partizipationsansprüchen des Patienten zum Einsatz.

Stehübungsgeräte

Eine Sonderstellung nehmen Rollstühle als Stehübungsgerät ein. Diese Modelle sind im Hilfsmittelverzeichnis als Stehübungsgeräte eingetragen und damit auch keine Rollstühle im eigentlichen Sinn. Sie sind von ihrer Beschaffenheit (Größe, Gewicht) auch nicht als Ersatz für einen Rollstuhl geeignet. Die Vorteile des Rollstuhls mit Stehtrainingsfunktion sind mannigfaltig. Medizinische Begründungen können sein: Reduktion spastischer Muskelspannungen, Kontrakturprophylaxe für Hüft- Knie und Fußgelenke wie auch der Wirbelsäule, Dekubitusprophylaxe oder -entlastung, Aufbau der Rumpfmuskulatur zum Erhalt gegen die Schwerkraft, Verminderung von Demineralisierungsprozessen durch mangelnde Knochenbelastung insbesondere der Beinknochen, Thromboseprophylaxe, Verbesserung des Urinabflusses, Verbesserung von Verdauungsproblemen. Zudem sind für den Patienten Ziele erreichbar, die oberhalb des Rollstuhlniveaus liegen (z. B. Hängeschränke). Die Stehfunktion wird elektrisch oder mit Handbetrieb erreicht. Die Fixierungen an Knie und Becken verhindern das Stürzen aus dem Stehübungsgerät. Ein Umsetzen aus einem anderen Stuhl in das Stehgerät ist in der Regel nicht erforderlich. Somit kann der Rollstuhl als Stehübungsgerät selbständig genutzt werden, was einen deutlich höheren Einsatz im Vergleich zum reinen Stehgerät verspricht.

Ärztliche Verordnung notwendig

Für die Versorgung eines Rollstuhls einschließlich der erforderlichen Ausrüstung wird eine ärztliche Verordnung benötigt. Es ist ohne Frage wichtig, dass dieser Rollstuhl nach den Bedürfnissen und körperlichen Gegebenheiten des Patienten nach Maß verordnet wird. Ein Beispiel: Adaptivrollstuhl nach Maß mit Zubehör – zusätzlich muss die erforderliche Zusatzausrüstung mit Begründung verordnet werden. Das gilt speziell für Zusatzantriebe oder eben für den Rollstuhl als Stehübungsgerät. Bei Letzterem sollte auf der Verordnung auch nicht "Rollstuhl", sondern konkret "Stehübungsgerät" stehen. Das Modell muss angegeben werden, mit dem Zusatz "nach Probe gemäß Anpassung mit Zubehör für das tägliche Stehtraining."

Kosten und Nutzen des Rollstuhls

Eine klare medizinische Begründung sowie die Klassifizierung des Rollstuhls und des Zubehörs ist hier notwendig, zum Beispiel: "Leichtgewichtrollstuhl mit Trommelbremsen für die Begleitperson", etc. Auf der anderen Seite sollte sich der Betroffene auch selbst klar die Frage stellen, ob er wirklich einen Nutzen von der Versorgung hat und ob er diese auch im Alltag einsetzen wird.

Bei der großen Anzahl der verschiedenen Rollstuhltypen, Zusatzausrüstungen, Sicherheitsaccessoires, den notwendigen Gedanken um den Einsatzort des Hilfsmittels, dem sinnvollen Einsatz wie auch der Anpassungsfähigkeit diverser Modelle an einen veränderten Körperzustand, ist eine fachliche Beratung unerlässlich. Diese sollte in Form von Fachübungsleitern im Rehabilitationssport Neurologie und Medizinproduktberatern mit guter Kenntnis der Möglichkeiten, aber auch der körperlichen und kognitiven Voraussetzungen eine gezielte Empfehlung abgeben können. Die Rollstuhlabteilung des NRZ Quellenhof bietet diesen Service.

Klaus Gusowski, Ltd. Physiotherapeut,
NRZ Quellenhof, Bad Wildbad

Florian Schlegel, Ltd. Rollstuhlabteilung,
Fachübungsleiter Rehabilitationssport
Neurologie, Medizinproduktberater,
NRZ Quellenhof, Bad Wildbad

 
 
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Redaktion: AMSEL e.V., 03.03.2008