"Reine Nervensache"

Ruinierte Nerven - nerven. Das wird jeder Multiple Sklerose Erkrankte bestätigen. Dabei machen doch auch kaputte Nerven im Rahmen ihrer Möglichkeiten einen guten Job, meint Maximilian Dorner in seiner Kolumne für Together.

"Er hat was mit den Nerven." – Bei dieser Aussage schwingt ein leiser Vorwurf mit: Da hat sich jemand nicht wirklich im Griff. Der Mann, so unterstellt man, ist zu schwach, vielleicht sogar leicht unbeherrscht. Wer was mit den Nerven hat, bei dem stimmt irgendwas nicht. Genaueres weiß man nicht, und eigentlich will man es auch gar nicht genauer wissen. So ganz wohl ist keinem bei dem Thema.

Etwas Verdruckstes ist auch dabei, wenn man sagt: "Ich habe die Nerven verloren." – Eigentlich ist damit nämlich gemeint: Ich habe mich von meinen Gefühlen überrollen lassen. Als ob die Nerven schuld wären, wenn man sich hat gehen lassen. Sie eignen sich hervorragend als Sündenbock, so scheint es.

Die meisten Aussagen über die Nerven weisen auf einen Kontrollverlust hin. Ob bei dem lakonischen "Das nervt" oder bei "Du gehst mir auf die Nerven", immer wirken diese überreizt. Und überlastet. Oder sie verweigern gleich ganz den Dienst. Wenn man nicht welche aus Drahtseilen hat.

Man braucht nur hinhören, wie über die Nerven gesprochen wird, dann weiß man, wie sich ihr Ausfall anfühlt. Hinter all diesen Redensarten steckt nämlich das Wissen, dass ruinierte Nerven wirklich – nerven. Jeder mit MS kann ein Lied davon singen. Die Forschung, sonst nie um eine Antwort verlegen, muss gerade hier passen: Bei allen neuro-degenerativen Krankheiten tappen die Mediziner im Dunkeln. Das ist kein Zufall, denn Nerven sind eben der blinde Fleck unserer Wahrnehmung. Weil wir gerade durch sie mit der Außenwelt kommunizieren, haben wir kein Gefühl für sie. Wir bemerken sie erst, wenn die Leitung unterbrochen ist.

Da verwundert es eigentlich nicht, dass uns niemand beigebracht h

at, unser Nervenkostüm zu schätzen. Vielleicht müsste dies am Anfang
jeder Heilung stehen: Die Einsicht, dass selbst meine kaputten
Nerven nicht nerven, sondern im Rahmen der Möglichkeiten
einen guten Job machen.

Maximilian Dorner

seit 2000 Autor, Regisseur und Literaturlektor

  • geboren und wohnhaft in München
  • Studium der Dramaturgie an der Bayerischen Theaterakademie
  • u.a. Tätigkeiten als Film- und Hörspielproduzent, Theaterkritiker, Dozent und Dramaturg
  • 2007 Bayerischer Kunstförderpreis für sein Romandebüt "Der erste Sommer"
  • jüngste Publikation "Mein Schutzengel ist ein Anfänger" thematisiert Trost und Heilung
  • www.maxdorner.de

Quelle: AMSEL-Nachrichtenmagazin 01/13; Maximilian Dorner; Bild © Christine Schneider

Redaktion: AMSEL e.V., 18.02.2014