Spenden und Helfen

Ohne Sprache, aber nicht sprachlos

„Sprache ist der Schlüssel zur Welt“, so der große Humanist Wilhelm von Humboldt. Dramatisch, wenn einem dieser Schlüssel der Kommunikation, der uns mit anderen Menschen in Verbindung bringt, durch eine Krankheit wie die Multiple Sklerose abhandenkommt.

„Sprache ist der Schlüssel zur Welt“, so der große Humanist Wilhelm von Humboldt. Dramatisch, wenn einem dieser Schlüssel der Kommunikation, der uns mit anderen Menschen in Verbindung bringt, durch eine Krankheit wie die Multiple Sklerose abhandenkommt. Diese schmerzhafte Erfahrung musste Vera, studierte Mathematikerin und Chemikerin, im Alter von 25 Jahren machen. Ihr erster Schub hatte ihr vorübergehend die Sprache genommen.

Sprachlos am Tisch

Ende Januar 2016 kam Vera direkt aus der Klinik zur Reha in den Quellenhof Bad Wildbad. Für die extrovertierte junge Frau war das Szenario am Mittagstisch beängstigend und beschämend zugleich: Während ihre Tischnachbarn, durch ihre Rollstühle und Rollatoren als Betroffene deutlich erkennbar, sie als Neuankömmling mit Fragen überhäuften, konnte man ihr Handicap nicht sehen. Sie saß nur sprachlos am Tisch und konnte ihnen nicht erklären, warum das so war. Ihr Name und einzelne Worte waren alles, was sie hervorbringen konnte. Heute hat Vera nur noch ab und zu leichte Wortfindungsprobleme, die nur sie selbst, ihre Familie und ihr nahes Umfeld bemerken. Auch die Gleichgewichts-, Konzentrations- und Schlafstörungen von damals sind deutlich besser geworden.

Die Krankheit hatte bei der gebürtigen Schwäbisch Hallerin zunächst eher schleichend begonnen: Im Dezember 2015 kam es zu kleinen Unkonzentriertheiten und Missgeschicken: Gegenstände glitten ihr aus den Händen, sie verwechselte Zahnpasta und Flüssigseife. Ihre beiden jüngeren Schwestern fanden, sie sei „komisch drauf“, versuchten sie zum Arzt zu schicken. Sie selbst verdrängte ihre Fehlleistungen und schob sie auf mangelnden Schlaf. Mitte Januar 2016 waren ihre Aussetzer auch auf sprachlicher Ebene so massiv, dass sie sich von ihrem damaligen Freund zu einem Arztbesuch überreden ließ. Dann ging alles ganz schnell: CT, MRT und Liquordiagnostik ergaben ein eindeutiges Bild. Die Diagnose nahm Vera gar nicht richtig wahr, irgendwie war sie in einem Tunnel. Sie hat kaum eine Erinnerung an diese Zeit.

MS als Chance

Aufgrund der hohen Aktivität ihrer MS zu jener Zeit – innerhalb von drei Monaten hatte Vera drei Schübe – wurde sie sehr schnell von der Basistherapie auf eine Eskalationstherapie umgestellt. Nach kurzen Episoden mit Blutdruckabfall und einer Hautreaktion während der Behandlung leidet sie nach der letzten Gabe des monoklonalen Antikörpers nur noch gelegentlich unter mangelndem Hungergefühl. „Das lässt sich aber durch regelmäßige Mahlzeiten leicht managen“, räumt sie ein. Sie geht einmal im Monat zum Arzt, um weiterhin ihre Blutwerte kontrollieren zu lassen und setzt unterstützend auf Biotin- und Vitamin-D-Präparate.

Die Symptome des zweiten und dritten Schubs, ataktisches Gangbild und Sensibilitätsstörung der rechten Gesichtshälfte, haben sich zum Glück vollständig zurückgebildet. Mittlerweile ist die selbstbewusste und sympathische Frau drei Jahre schubfrei und hat wieder die Hauptrolle in ihrem Leben übernommen: „Meine MS läuft im Hintergrund mit, hat keine Auswirkungen auf meine Lebensplanung.“ Dass sich das jederzeit ändern kann, ist ihr sehr wohl bewusst, schmälert aber nicht ihre optimistische Lebenseinstellung. Zukunftsängste hat sie keine, dazu ist sie in der Gegenwart viel zu stark verankert. „Wir schätzen einzelne Momente viel zu wenig“, so ihre Überzeugung. Eine Einsicht, zu der sie erst durch die Krankheit gefunden hat. Vera sieht ihre MS als Chance, das Leben noch mehr und noch bewusster zu genießen.

Die mutige junge Frau geht mit ihrer Krankheit sehr offen um, bei durchweg positiver Resonanz. Nur einmal war ihr vor dem Outing etwas flau im Magen, beim Vorstellungsgespräch zu ihrem dualen Studium. Doch sie bekam Studienplatz und Ausbildungsstelle, eine tolle Bestätigung. Mittlerweile steht Vera kurz vor ihrem zweiten Studienabschluss: Nach ihrem Staatsexamen in Mathe und Chemie setzt sie nun den Bachelor in Wirtschaftsinformatik oben drauf. Und hofft, dass sie übernommen wird. Ein Job im Rechnungswesen ihres Unternehmens wäre ihr Traum. Zwei gesunde Kinder wünscht sie sich außerdem, aber dafür muss erst mal Mr. Right kommen. Das wird er früher oder später, ist sich die 28-Jährige sicher.

Einen kreativen Ausgleich findet die Mathematikerin beim Malen nach Zahlen, das sie zu ihrem Hobby und zu ihrer persönlichen Therapieeinheit erklärt hat. Körperlich fit hält sie sich durch ihr gewohntes Sportprogramm: Radfahren, Fitness-Studio, Skifahren, Snowboarden, Klettern. Kognitiv trainiert die Sportbegeisterte allein durch ihr Studium schon gut. Außerdem lernt sie momentan Spanisch, denn ihr nächstes Reiseziel ist Kuba. Als leidenschaftlicher Backpackerin geht es ihr darum, das wirkliche Leben vor Ort ganz authentisch zu erleben. In den letzten zwei Jahren war sie in Kolumbien und Myanmar mit dem Rucksack unterwegs, oft ganz nah dran an der Lokalbevölkerung. Solche Begegnungen sind Vera Training und Nahrung für Geist und Seele zugleich.

Zurück zum Ursprung

Übrigens hat die Informatikerin noch nie MS gegoogelt oder sich auf den einschlägigen Internetforen mit anderen Betroffenen ausgetauscht. Das würde sie eher runterziehen, glaubt sie, und schätzt den persönlichen Kontakt auf den Veranstaltungen der Kontaktgruppen und Jungen Initiativen umso mehr. Besonders bei den U30-Veranstaltungen der AMSEL, so ist sie überzeugt, bekommt man ein realistischeres Bild vom Leben mit MS als im Internet.

Inzwischen ist die vorübergehende Wahl-Kölnerin schon wieder auf dem Absprung zurück in ihre alte Heimat Karlsruhe. Nach der Trennung von ihrem Freund kurz nach ihrer Diagnose hatte sie die Distanz der Großstadt gesucht. In Karlsruhe hat sie sich in die Aktionen zum diesjährigen Welt MS Tag eingebracht. Den Kontakt zur Jungen Initiative hat sie auch während ihrer Kölner Zeit nicht abreißen lassen, kommt nun auch in dieser Hinsicht „nach Hause“.

Veras Mission: „Unsere gesunden Mitmenschen wissen viel zu wenig über MS. Das soll sich durch den Welt MS Tag ändern. Und gleichzeitig sollen sie aus erster Hand erfahren, dass die Diagnose MS nicht den Weltuntergang bedeutet, sondern dass man auch mit dieser heute noch unheilbaren Krankheit ein glückliches Leben führen kann.“

Grund genug für sie, die diesjährige Kampagne der AMSEL zum Welt MS Tag mit ihrem Gesicht und einem Statement zu unterstützen, um das komplexe Krankheitsbild und die oft erklärungsbedürftigen unsichtbaren Symptome der breiten Öffentlichkeit sichtbar und begreiflich zu machen. Auch wenn ihr die MS zeitweise die Sprache genommen hat, so aber nicht ihren Willen und Mut, Dinge auszusprechen und sich für die Aufklärung über MS stark zu machen.

Quelle: together, 02.2019

Redaktion: AMSEL e.V., 09.09.2019