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Multiple Sklerose 2020 - Wo stehen wir nach 25 Jahren MS-Therapie?

Beim 9. Stuttgarter MS-Symposium ging es um Propionsäure, die Gene, Kinderwunsch, MS im Alter und Neuromyelitis Optica. Zum ersten Mal fand das Ärzte-Symposium persönlich wie auch virtuell statt. Mit Fotostrecke.

Multiple Sklerose 2020 - Wo stehen wir nach 25 Jahren MS-Therapie?

So lautete das Thema des 9. Stuttgarter MS-Symposiums, das im Corona-Jahr 2020 erstmals als Hybrid-Veranstaltung konzipiert war: Die Teilnehmer konnten entscheiden, ob sie als Zuhörer im Tagungshotel präsent sein oder die Vorträge lieber digital per Video-Konferenz verfolgen wollten. Gleiches galt für die Referenten, die bis auf eine Ausnahme online zugeschaltet waren und in sechs Vorträgen über die neuesten Entwicklungen in der MS-Therapie referierten. Im Fokus der Vorträge standen

  • die Rolle kurzkettiger Fettsäuren bei neuen Therapieansätzen,
  • genetische Aspekte für das Auftreten der Autoimmunerkrankung,
  • Kinderwunsch und MS,
  • Therapie im höheren Lebensalter und
  • eine Abgrenzung zwischen NMOSD und MS.

25 Jahre MS-Therapie: “gewaltige Fortschritte“

In seinem persönlichen Rückblick zeichnete Prof. Dr. med. Peter Flachenecker, Chefarzt des Neurologischen Rehabilitationszentrums Quellenhof in Bad Wildbad und Moderator des Symposiums, die Entwicklung der Diagnose- und Therapiemöglichkeiten bei Multipler Sklerose nach. Seit der ersten Beschreibung des Krankheitsbildes im Jahr 1868 hat sich einiges getan – in Forschung und Lehre wie im klinisch-diagnostisch-therapeutischen Bereich. Immer mit dem Ziel, MS-Betroffenen die bestmögliche Behandlung und Versorgung zukommen zu lassen.

Zur Anzahl der MS-Betroffenen gab es anfangs nur Schätzungen, heute gilt als gesichert, dass in Deutschland ca. 250.000 Betroffene leben. Seit 2001 gelten die McDonald-Kriterien für die Diagnose der MS. Dass diese Kriterien seither schon drei Mal und zuletzt 2017 revidiert wurden, zeigt den rasanten Wissenszuwachs über die Krankheit, so der Vorsitzende des Ärztlichen Beirats der AMSEL.

Seit 1993 werden Beta-Interferone als erste etablierte (Basis-)Therapie eingesetzt, heute gibt es 14 Wirkstoffe und 18 Präparate, darunter neue Immuntherapeutika, die mittlerweile auch zumindest teilweise bei der primär progredienten Form wirksam sind. Prof. Flacheneckers Fazit: In den letzten 25 Jahren hat die Wissenschaft gewaltige Fortschritte bei Diagnose und Therapie der MS erzielt.

Ballaststoffreiche Ernährung und Propionsäure als Allheilmittel?

Als Allheilmittel oder auch nur als alleinige Maßnahme bzw. Therapie kann man beides nicht ansehen. Dennoch: Ein gewisser Einfluss scheint gegeben und daher können Ernährungsumstellung und Propionsäure ergänzend sinnvoll sein. Seit Jahren erforscht Univ.-Prof. Dr. med. Aiden Haghikia, Direktor der Klinik für Neurologie der Universität Magdeburg, die Auswirkungen von Ernährung und Mikrobiom des Darms auf das Immunsystem und chronische Entzündungsgeschehen bei MS.


Dass eine pflanzliche, ballaststoffreiche Ernährung eine positive Wirkung auf kognitive Leistung und die gängigen Symptome der MS hat, wurde in mehreren Studien über die Jahre nachgewiesen. Aber was genau macht den Unterschied, der zum Entstehen der MS führen kann? Der Sobek-Nachwuchspreisträger des Jahres 2019 analysierte das Mikrobiom des Darms bei MS-Patienten im Vergleich zu Gesunden. Ergebnis: Bei MS ist die Komposition des Mikrobioms verändert.

Komplexe Netzwerke sind die Produzenten von kurzkettigen Fettsäuren in der Darmwand. Bei MS-Betroffenen ist ein Mangel an diesen Fettsäuren zu beobachten, der allein durch eine Ernährungsumstellung nicht kompensiert werden kann. Führt man dem Organismus aber Propionsäure zu, kommt es schon nach 14 Tagen zu einem signifikanten Anstieg der Regulationszellen mit möglicherweise positiven Auswirkungen auf Schubrate und Behinderungsprogression.

Die Bildgebung beweist bei zusätzlicher Propionsäuregabe weniger Gehirnatrophie, ja sogar eine Zunahme der grauen Gehirnmasse. Laut Prof. Haghikia ist damit Propionsäure bei geringen bis keinen Nebenwirkungen eine gute Ergänzung zur bestehenden Therapie, deren Wirksamkeit aber noch in großangelegten klinischen Studien bewiesen werden muss.

Spielt die Genetik bei MS etwa doch eine größere Rolle als gedacht?

Aktueller Stand der Forschung ist, dass an der Entwicklung einer Multiplen Sklerose zu 30 Prozent genetische Faktoren und zu 70 Prozent Umwelteinflüsse beteiligt sind. Aufgrund der Erkenntnisse aus der „MS-Zwillingsstudie“ meldet deren Leiterin, Priv.-Doz. Dr. med. Lisa Ann Gerdes von der LMU München Zweifel an. Sie hat Hinweise darauf, dass die Genetik und hier insbesondere epigenetische Zusammenhänge doch einen größeren Anteil am Ausbruch der Krankheit haben.

Ins Zentrum ihrer Forschungen rückten Veränderungen auf der DNA von Zwillingen bspw. durch DNA-Methylierung, die Fehlfunktionen der Immunzellen verursachen und zur Entstehung einer MS führen können. Methylierungsprofile von eineiigen Zwillingspaaren wurden erfasst und statistisch ausgewertet. Ergebnis: Es gab krankheitsassoziierte epigenetische Unterschiede in den Immunzellen. Weitere Erkenntnis: Die Gabe von bestimmten MS-spezifischen Medikamenten kann ebenfalls zu epigenetischen Veränderungen der Immunzellen führen.

Möglicherweise liefern die gewonnenen Daten Hinweise zur Entstehung der MS und zu neuen Therapieansätzen. Corona-bedingt ist die Studie momentan etwas ins Stocken geraten. Ein weiterer Schwerpunkt der Zwillingsstudie wird das Mikrobiom des Darms speziell im prodromalen Stadium, also vor Ausbruch der Krankheit beim bislang nicht betroffenen Zwilling, sein.

Sinnvoll oder riskant? MS-Therapie im höheren Lebensalter

Fakt ist, so die Ausführungen von Prof. Dr. med. Christoph Kleinschnitz: Altern geht einher mit spezifischen Veränderungen des Immunsystems. Die Analyse des Direktors der Klinik für Neurologie an der Universitätsklinik Essen zeigt: Je älter Patienten bei der Erstdiagnose einer schubförmig remittierenden MS sind, desto ungünstiger der Verlauf, desto schneller treten Behinderungen auf, desto schneller erfolgt der Übergang zur sekundär progredienten Form.

Hinzu kommt: Immuntherapeutika entfalten bei älteren Patienten in der Regel eine schwächere Wirkung als bei jungen. So kann es zur Erhaltung der Lebensqualität durchaus Sinn machen, auch bei älteren Patienten auf eine hochwirksame Immuntherapie umzustellen und mögliche unerwünschte Wirkungen in Kauf zu nehmen. Eine kalendarische Altersgrenze gibt es laut Prof. Kleinschnitz nicht. Aber: Risiken und Komorbiditäten steigen mit zunehmendem Alter und müssen bei der Medikation berücksichtigt werden. Es gilt auch hier: eine sorgfältige Diagnostik ist unerlässlich. Chancen und Risiken müssen für jeden individuell abgewogen und mit den Erwartungen des Patienten abgeglichen werden.

Kinderwunsch und MS

Kinderwunsch ist ein wichtiges Thema insbesondere für Frauen, die in jungen Jahren die Diagnose MS erhalten. Priv.-Doz. Dr. med. Kerstin Hellwig, Ruhr Universität Bochum, zeigte die Auswirkungen verschiedener MS-Medikationen während und nach der Schwangerschaft und in der Stillzeit auf. Eine Schwangerschaft ist nach ihren Worten von vorneherein ein Risiko, deshalb muss die Risiko/Nutzen-Relation verschiedener MS-Medikationen besonders genau individuell abgewogen werden.

Eine Schwangerschaft hat generell eine immunsuppressive Wirkung, deshalb wird bei Schwangeren mit und ohne MS eine Grippe- und Keuchhusten-Impfung dringend empfohlen. Sie stattet den Fötus gleichzeitig mit einem „Nestschutz“ aus, denn die Antikörper der Mutter gehen auf das Kind über. Während der Schwangerschaft verringert sich die Schubrate im Allgemeinen und steigt neueren Daten zufolge (im Gegensatz zu älteren Erhebungen) nach der Geburt nicht notwendigerweise über das vorherige Niveau an. Eine Metaanalyse hat nachgewiesen, dass Stillen die Schubrate günstig beeinflussen kann.

Allerdings erhöht sich das Schubrisiko, wenn die Krankheitsaktivität vor der Schwangerschaft vergleichsweise hoch war, insbesondere wenn hochwirksame MS-Therapien ausgesetzt werden mussten. Bei hochaktiven Krankheitsverläufen sollte die Medikation in den ersten 14 Tagen nach der Geburt wieder aufgenommen und auf das Stillen, je nach Wirkstoff, verzichtet werden.. Auch beim Thema Kinderwunsch gilt: Eine Schwangerschaft sollte geplant und über die Medikation in Abstimmung mit dem Neurologen und Gynäkologen entschieden werden.

NMOSD versus MS: Warum ist die diagnostische Abgrenzung so wichtig?

Weil die gängigen MS-Therapeutika (abgesehen von Rituximab)  bei der MS-ähnlichen NMOSD (Neuromyelitis Optica Spectrum Disease) wirkungslos ist oder diese gar verschlechtern kann und damit kontraindiziert ist, so Prof. Dr. med. Friedemann Paul von der Charité Berlin. Er zeigte in seinem Vortrag die Unterschiede zwischen der seltenen Autoimmunerkrankung NMOSD und MS auf.

Die Symptome Sehnerventzündung, Myelitis und Läsionen an der Area postrema (Brechzentrum am Hirnstamm) mit Schwindel, Schluckauf und Erbrechen treten schubweise allein oder in Kombination auf. Die Krankheit schreitet üblicherweise schnell voran. In 75 Prozent der Fälle lassen sich Aquaporin-4-Autoantikörper nachweisen, die in den Zellstoffwechsel eingreifen und Entzündungsprozesse fördern. Axonale Schäden, auch Demyelinisierungen können die Folge sein.

Da die NMOSD-Symptome sich nach einem Schub spontan meist nicht vollständig zurückbilden und ein hohes Rezidiv-Risiko besteht, muss bereits zwingend nach dem ersten Schub behandelt werden. Eine Nichtbehandlung bezeichnet Prof. Paul schlichtweg als Kunstfehler. Je schneller diagnostiziert und therapiert wird, desto günstiger ist die Prognose. Die Bestimmung der genannten Antikörper, flankierend zur Liquorpunktion und Bildgebung, ermöglicht eine zuverlässige Differentialdiagnose. Die Schubtherapie erfolgt wie bei der MS mit Cortison. Zur Schubprophylaxe wird der aus der MS-Therapie bekannte Wirkstoff Rituximab eingesetzt, daneben ist der monoklonale Antikörper Eculizumab für die NMOSD zugelassen.

Wie in den Vorjahren war auch das 9. Ärztesymposium der AMSEL in dieser hybriden Form gut besucht. Registriert waren mehr als 30 digitale und 35 analoge Teilnehmer. Bedenkt man Wege- und Zeitersparnis bei gleichzeitigem Sicherheitsgewinn in Pandemie-Zeiten, hat sich der zusätzliche technische Aufwand mehr als gelohnt.

Das 9. Stuttgarter Symposium der AMSEL war von der Landesärztekammer als Fortbildungsveranstaltung anerkannt. Für die freundliche Unterstützung bei der Durchführung dankt AMSEL den Unternehmen Almirall, Merck, Novartis, Roche, Sanofi Genzyme und Teva.

Redaktion: AMSEL e.V., 30.09.2020