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Müdigkeit bei Multipler Sklerose - Die unsichtbare Begleiterin

17.05.04 - Auf leisen Sohlen schleicht sich die Müdigkeit an und wird oft lange Zeit nicht richtig ernst genommen.

"Ich muss doch können!" denken viele der Betroffenen, doch zwischen "können wollen" und "wirklich können" liegen Welten.

Studien zeigen, dass bis zu 85% der MS-Betroffenen unter Müdigkeit leiden, für etwa 40% stellt sie ein Hauptsyndrom dar. Müdigkeit, auch Fatigue genannt, ist somit das häufigste Symptom bei MS. Oft ist sie auch eines der ersten Anzeichen der Krankheit. Da Fatigue die Lebensqualität massiv beeinträchtigt, gilt sie auch als Hauptbelastungsfaktor und nicht selten als die subjektiv am "schlimmsten" empfundene Auswirkung.

MS-Betroffene erfahren bzw. erleiden eine Müdigkeit, die in ihrer Qualität in keiner Weise mit einer alltäglichen Müdigkeit vergleichbar ist. Fatigue behindert die Betroffenen in ihren Alltagsaktivitäten, ihrem Beruf, ihrem Beziehungs- und Familienleben und in ihrer körperlichen Funktionstüchtigkeit.

"Es ist schwierig zu erklären, was es genau ist", meint Frau R., die massiv von Fatigue betroffen ist. "Es ist einfacher zu sagen, dass ich kein Gefühl in der Unterlippe habe, aber wenn ich sage, dass ich müde bin, dann meinen viele: ‚Ja, das sind wir auch.' Aber diese Müdigkeit ist etwas ganz anderes: Wenn sie da ist, kann ich sie nicht einfach auf die Seite tun. Sie ist unerbittlich, und es kann vorkommen, dass ich so müde bin, dass mir davon übel ist."

Einbezug des Umfeldes

In einer Gesellschaft, in der Leistungsfähigkeit, Vitalität und Aktivität groß geschrieben werden, fühlen sich Betroffene mit dieser Behinderung rasch einmal ausgeschlossen oder ins Abseits gedrängt. Oftmals bestrafen sie sich zusätzlich mit Selbstvorwürfen und überfordern sich, weil sie selber nicht verstehen, warum sie nicht so funktionieren, wie sie es gerne möchten oder es andere von ihnen erwarten. Wird ein Nichtkönnen von anderen als ein Nichtwollen aufgefasst, laufen MS-Betroffene Gefahr, als Simulanten dazustehen, die sich nicht zusammenreißen. Aufklärung tut deshalb Not und hilft, Missverständnissen und Vorwürfen vorzubeugen.

Die Aufklärungsarbeit ist allerdings nicht einfach. Eine eindeutige klinische Definition existiert nämlich bis jetzt nicht. Im Zusammenhang mit Fatigue werden eine Reihe schwer definierbarer Phänomene genannt, wie "Schläfrigkeit", "Erschöpfung", "Abgeschlagenheit", "vorzeitige oder abnorme Ermüdbarkeit", "Energiemangel", "Schwäche", "verminderte Belastbarkeit" oder "Mattigkeit" genannt. Fatigue zeigt sich demnach in allen Bereichen des menschlichen Erlebens, auf der physischen, der mentalen und der emotionalen Ebene.

Unklare Verhältnisse

Die Theorien zu den Ursachen der Fatigue sind zahlreich, aber nur zum Teil bestätigt; die Auswirkungen der Fatigue sind ebenso individuell unterschiedlich wie die Wirkung der verschiedenen Therapievorschläge. Deshalb ist es sichtig, dass sich Betroffene ein Bild über die Zusammenhänge und die Behandlungsmöglichkeiten der eigenen Müdigkeit machen und dieses Wissen auch an das private und berufliche Umfeld weitergeben. Bei Berufstätigen steht oftmals eine Reduktion des Arbeitspensums an. In diesem Falle sollte man sich immer von einer Fachperson beraten lassen, damit die entsprechenden Sozialversicherungen ausgelöst werden können.

Auch wenn die Ursachen der Fatigue nicht genau bekannt sind, so weiß man heute, dass es verschiedene Einflussfaktoren gibt, die zu einer Verschlimmerung oder zu einer Verbesserung der Symptomatik beitragen. Doch einfach Zusammenhänge gibt es nicht und die Einflussfaktoren können bei jedem Betroffenen andere sein. Das gilt auch für die Auswirkungen: Müdigkeit wird oft ganz unterschiedlich erlebt. Auch die Lebenssituation mit ihren individuellen Anforderungen an die Betroffenen spielt eine Rolle. Zudem kann sich Fatigue abhängig von den Bewältigungsstrategien, die der Einzelne entwickelt, sowie der Unterstützung, die er aus dem Umfeld erhält, anders auswirken.

Eine persönliche Gebrauchsanweisung

Die Müdigkeit gibt es also nicht. Deshalb ist eine Auseinandersetzung mit der eigenen Müdigkeit unentbehrlich. Voraussetzung dafür ist, sich über längere Zeit hinweg genau zu beobachten, um herauszufinden, welche individuellen Einflussfaktoren erkennbar werden. Hierzu gehören Fragen wie: "Welche persönlichen Zusammenhänge finde ich?", "In welcher Situation fühle ich mich müde?", "Wie denke ich über mich, wenn ich müde bin?", "Was glaube ich, denken die anderen über mich?" Es ist aber auch wichtig herauszufinden, was die Fatigue positiv beeinflussen kann. Also auch Fragen zu stellen wie: "Wann geht es mir gut?", "Wann bin ich nicht müde, sondern vital?" Es lohnt sich, für diesen Beobachtungsraum eine Art Tagebuch zu führen, um aus den gewonnenen Erkenntnissen seine "persönliche Gebrauchsanweisung" zusammenzustellen. Da die vielen, gut gemeinten Ratschläge, die auf Betroffen einprasseln, oft nur den anderen helfen, sind die besten Ratschläge meist jene, die sich jemand für sich selbst erarbeitet hat. Frau R. zum Beispiel spielte leidenschaftlich gerne Tennis, merkte aber, dass sie stark ermüdete, wenn sich ihre Füße durch Sportschuhe erwärmten. Sie musste sich schweren Herzens eine neue Sportart suchen. Schwimmen kam dabei nicht in Frage, da sich im warmen Wasser zusätzlich auch noch ihre Schmerzen in den Füßen verstärkten. Seit diesem Jahr ist sie aufs Fahrrad umgestiegen. Hierfür kann sie Sandalen anziehen. Nun unternimmt sie zusammen mit ihrem Partner in der Freizeit Fahrradtouren und ist froh, dass sie weiterhin sportlich aktiv sein kann.

Was kann helfen?

Besserung kann von verschiedenen Seiten kommen: durch Symptombehandlung, durch Beeinflussung der auslösenden Faktoren, durch Veränderung der Lebensgewohnheiten und durch Aktivierung eigener Ressourcen. Am Anfang steht die ärztliche Abklärung: Liegt neben der MS eine Erkrankung vor, die Müdigkeit hervorruft, zum Beispiel eine Infektionserkrankung)?Muss zusätzlich eine depressive Symptomatik vermutet werden? Wird die Müdigkeit durch verordnete Medikamente verstärkt oder hervorgerufen? Trifft davon etwas zu, muss die zugrunde liegende Erkrankung behandelt werden, z.B. die Depression mit Psychotherapie und begleitender medikamentöser Therapie, oder es müssen die Müdigkeit auslösenden Medikamente abgesetzt werden.

Müdigkeit ist teilweise durch Medikamente behandelbar. Es gibt Substanzen, die mehr oder weniger Erfolgreich bei Müdigkeit eingesetzt werden. Dazu gehören Amantadin und Modafinil. Antidepresseiva können ebenso - unabhängig davon, ob eine Depression vorliegt oder nicht - hilfreich sein. Alle Medikamente haben aber neben der erwünschten auch unerwünschte Wirkungen. Im Gespräch mit dem behandelnden Arzt gilt es, ein geeignetes Präparat zu finden.

Das Wissen um die individuellen Einflussfaktoren sollte in die Planung der eigenen Aktivitäten einbezogen werden: Zum Beispiel die Arbeit nach Möglichkeit auf die Morgenstunden zu verlegen, für niedrigere Raumtemperatur sorgen, heiße Vollbäder zu vermeiden, Ferien in kühleren Regionen zu verbringen, auf gesunde, leichte Ernährung zu achten, Schlafgewohnheiten zu verändern bzw. Maßnahmen zu ergreifen um mehr Schlaf zu finden. Ein ergonomisch optimal eingerichteter Arbeitsplatz beugt körperlicher Verspannung und Ermüdung vor. Oft braucht es dabei fachkundige Beratung durch eine Ergo- oder Physiotherapeutin. Aus Studien weiß man, dass regelmäßige Bewegung und sportliche Aktivitäten auf Dauer eine Verbesserung der allgemeinen Befindlichkeit bewirken, genauso wie gezieltes Stressbewältigungs- und Entspannungstraining.

Pausen machen

Einen wichtigen Punkt im Ringen mit der Müdigkeit nennen Betroffene den Moment, in dem sie akzeptieren konnten, dass sie Pausen brauchen. "Nichts einfacher als das!" mögen einige denken. Doch sich eine klar begrenzte Auszeit zu gönnen, ohne das Gefühl zu haben, auf der faulen Haut zu liegen, muss erst gelernt werden. Wer seinen Tag von Müdigkeit begleitet erlebt, weiß, wie notwendig es ist, vorausschauend zu planen, dem Tag oder der Woche Struktur zu geben und sich selber Pausen und Entspannung zu verordnen.

Pausen sollten zudem gemacht werden, bevor die Erschöpfung da ist. Frau R. hat sich ihren Tag so eingeteilt, dass sie am Morgen arbeitet und danach nach Hause gehen kann, um für eine oder mehrere Stunden zu schlafen. "Es kann sein, dass ich von der Arbeit nach Hause komme und so müde bin, dass ich nicht einmal mehr kochen kann. Ich weiß heute, dass ich mich erst hinlegen muss. Unter Umständen bitte ich meinen Mann, sich um das Essen zu kümmern." Frau R. hat heute keine Hemmungen mehr, Pausen für sich einzufordern. "Wenn wir für einen Tag bei Freunden sind, dann kann es schon vorkommen, dass ich sage: ‚So, jetzt muss ich mich für eine Stunde hinlegen.'"
Sogar an Tagen, an denen sie sich nicht müde fühlt und sie eigentlich viel unternehmen möchte, behält Frau R. ihre Mittagsruhe bei. "Am Anfang ist mir das sehr schwer gefallen, aber ich habe herausgefunden, dass ich diese Pausen einfach brauche." Eine klare Planung des Alltags mit Pausen spart Kraft. Vor und nach einer Anstrengung sollte deshalb immer gleich eine Pause mit eingeplant werden. Eine Pause zu machen, muss aber nicht zwingend "schlafen" heißen. Pausen können auch für angenehme Entspannungsmethoden genutzt werden, um schöne Musik zu hören oder einfach den Anblick des ersten Grüns im Garten ausgiebig zu genießen.

Bei all dem stehen einem oft die eigenen Ansprüche und Einstellungen im Wege. "Mithalten können", "funktionieren"; "nur nichts anmerken lassen", ist für viele die Devise. Doch die Fatigue stellt sich hier den Betroffenen oft in den Weg. Dass man aufgrund der Fatigue in vielen Lebensbereichen nicht mehr so kann, wie man es gerne möchte oder wie man es gewohnt war, ist die große Herausforderung bei diesem unsichtbaren Symptom. Das verlangt Anpassung, Planung und vor allem viel Verständnis.

Die AMSEL stellt zum Thema Fatigue - Müdigkeit bei MS auf dem Aktionstag die Broschüre "Fatiguemanager" vor. Er soll allen Betroffenen helfen, besser mit diesem Thema umgehen zu können.

Diese Faktoren beeinflussen die Fatigue:

· Höhe der Körpertemperatur
· Tages- und Jahreszeit
· Körperliche, geistige und emotionale (Über-)Anstrengung
· Behinderungsgrad: je stärker die Behinderung, desto anstrengender werden alltägliche Verrichtungen
· Depression
· Lebensgewohnheiten (Ernährung, Alkoholkonsum, unzureichende Bewegung)
· Einnahme spezifischer Medikamente
· Schlafstörungen aufgrund von Spasmen, Schmerzen und häufigem Wasserlassen
· Dekonditionierung: Verminderung der Leistungsfähigkeit kann zu einer Vermeidung von Aktivität führen, was wiederum die Fatigue verstärken kann

Hier geht's zum Überblick von Together 2/ 2004.

Redaktion: AMSEL e.V., 17.05.2004