Spenden und Helfen

"MS ist eine besondere Lebenslage"

Dr. Martin Rösener und Prof. Hayrettin Tumani mit wertvollen Infos zu MS und Reisen und MS Ü55. Auf der Mitgliederversammlung der AMSEL. Mit Bildergalerie.

"MS in besonderen Lebenslagen" – so war das AMSEL-Symposium am Vormittag der Mitgliederversammlung überschrieben. „Multiple Sklerose ist eine besondere Lebenslage", ergänzte Professor Horst Wiethölter und stellte die beiden Vorträge kurz vor: MS im Urlaub und auf Reisen sowie Immunseneszenz bei MS.

Schübe halten sich nicht an Reisepläne

Mit einem Zitat aus Wilhelm Meisters Wanderjahren von Johann Wolfgang von Goethe startete Dr. med. Martin Rösener sein Referat: „Unvorbereitetes Wegeilen bringt unglückliche Wiederkehr." Das gelte ganz besonders bei chronischen Erkrankungen wie der MS, aber auch bei Diabetes, Demenz etc. Um Schübe, Immunmodulation sowie Symptome und allgemeine reisemedizinische Hinweise ging es im kurzweiligen Vortrag mit dem Stuttgarter Neurologen.

"Schübe sind unvorhersehbar und halten sich nicht an Reisepläne", weiß Doktor Rösener. Je nach Land sei es sinnvoll, eine orale Stand-by-Medikation mitzunehmen. Voraussetzung sei, dass der Patient Erfahrung mit Schüben hat und Rücksprache mit seinem Arzt halten kann. Er selbst habe bereits mit Patienten kommuniziert, die fereinhalber in den USA und Ägypten weilten. Nicht in allen Ländern zahlt die gesetzliche Krankenversicherung und Reiseversicherungen übernehmen in der Regel keine Kosten für bereits vorbestehende Erkrankungen, die sich am Urlaubsort verschlechtern. Das sollte man unbedingt vor Reiseantritt klären. Weil grippale Infekte Schübe auslösen können, sollte man gerade beim Hin und Her zwischen draußen und klimatisierten Räumen aufpassen.

Die immunmodulatorische Therapie sollten Patienten auf gar keinen Fall unterbrechen, auch wenn das scheinbar einiges erleichrten würde: Man will ja im Urlaub keinen Schub haben. Auch hier gilt es, sich gut vorzubereiten, denn Spritzen am wackligen Campingtisch ist schwieriger als zu Hause. Auf Hygiene ist besonders zu achten.

Die Medikamente gehören beim Fliegen unbedingt ins Handgepäck, an Bord von der Kühltasche in den Kühlschrank, wegen der Spritzen mit einer entsprechenden Zollbescheinigung darüber und im Hotel oder Apartment wieder von der Kühltasche in den Kühlschrank. Was viele nicht wissen: Die Minibar wird vom Hotelpersonal bis auf die hoteleigenen Angebote oft geräumt. Das kann teuer werden, wenn hier MS-Medikamente entsorgt werden. Daher unbedingt vorher klären, dass diese Medikamente nicht weggeworfen werden.

Lagerungsbedingungen:
Betaferon®: unter 25°C
Extavia®: unter 25°C
Avonex® Fertigspritze: 2 - 8°C
Plegridy®: 2 - 8°C, 30 Tage unter 25°C
Rebif®: 2 - 8°C, 14 Tage unter 25°C
Copaxone®: 2 - 8°C, 30 Tage 15 - 25°C
Clift®: 2 - 8°C, 30 Tage 15 - 25°C

Ein schier endloses Thema, das Doktor Rösener in seinem Vortrag umrissen hat, sind die Symptome.

Fatigue: Wer unter Fatigue leidet, sollte besonders viel Wert auf Planung legen. "In Rom nicht jeden alten Stein besuchen," scherzt Dr. Martin Rösener. Zwischendurch lieber einen ganzen Pausentag im klimatisierten Hotel einplanen. Typische Studienreisen mit "rein in den Bus, raus aus dem Bus" seien für MS-Betroffene mit Fatigue nichts.

Uhthoff: Gerade in heißen Urlaubsländern zeigt sich bei vielen Patienten mit Multipler Sklerose die Wärmeintoleranz. Vorsicht ist hier vor allen Dingen bei Pseudoschüben geboten. Diese darf man nicht mit Cortison behandeln. Sie klingen von alleine ab und hinterlassen keine bleibenden Schäden. Tropische und subtropische Regionen seien zu meiden. Ebenso direkte Sonneneinstrahlung. Zu achten ist aber umso mehr auf das Kühlen, sei es durch Kühlwesten oder kalte Getränke.

Spastik: Spastik bei Multipler Sklerose wird unter anderem mit Nabiximols, einem Cannabisextrakt (Präparat Sativex) behandelt. Dies ist ein Betäubungsmittel. Daher muss man hier für Schengen-Staaten eine Genehmigung mit sich führen. Diese bekommt man von einer Beglaubigungsstelle. In Baden-Württemberg sind dies die Gesundheitsämter und eine Beglaubigung kostet ca. 30 €. Für Nicht-Schengen-Länder ist das Suchtstoffkontrollamt zuständig. Hier sollte man sich unbedingt vorher informieren, da man Betäubungsmittel in manche Länder gar nicht einführen darf und mit hohen Strafen rechnen muss. Orientierung bietet der Leitfaden für Reisende des Internationalen Suchtstoffkontrollamtes (www.incb.org).

Blasenstörungen: Weniger zu trinken ist gar keine Lösung, da dies zu Blasensinfektionen führen kann. Unbedingt sollte man mit seinem Arzt über Inkontinenz sprechen. Es gibt einige Hilfsmittel, die das Reisen mit Blasenstörungen erleichtern. Neben den bekannten Einlagen gibt es zum Beispiel die Einmalurinflasche für Männer (www.roadbag.de) wie für Frauen (www.ladybag.de). Ein Kondomurinal mit Beinbeutel ist nützlich bei langen Reisen, hilft häufige Gänge zur Toilette zu vermeiden. Dies gibt es mittlerweile sogar für Frauen, wegen der umständlicheren Handhabung sollte diese Lösung eher nur für ganz spezielle Situationen eingesetzt werde, zum Beispiel die eigene Hochzeit, scherzt Doktor Rösener (www.she-p.com). Wichtig außerdem: Diese Hilfsmittel enthalten einen Anti-Riech-Stoff. Damit ist es möglich, sich trotz Blasenstörungen in Gesellschaft weiter wohl zu fühlen. Bei vielen dieser Hilfsmittel kommt es außerdem zu einem psychologischen Effekt: "Wenn Sie wissen, Sie haben das dabei, dann müssen Sie schon gar nicht so oft," erklärt  Rösener. Last, not least hilft auch der Behinderten-WC-Schlüssel (http://www.cbf-da.de), dass man unterwegs ein sauberes, weil verschlossenes Behindertenklo vorfindet.

Auch an allgemeinen reisemedizinischen Hinweisen mangelt es nicht. Am wichtigsten vielleicht: Lebendimpfungen sind bei Multipler Sklerose nicht geeignet. Die Gelbfieberimpfung gehört dazu, weswegen Doktor Martin Rösener davon abrät, zum Beispiel den Zentralkongo zu bereisen. Sitzsportübungen helfen, langes Sitzen gerade auf Langstreckenflügen gut zu überstehen. MS-Betroffene sollten mehr noch als Gesunde darauf achten, keinen Durchfall zu bekommen, weil dann ihre Medikamente weniger stark wirken. Gute Nachricht: Malariamittel sind ohne Wechselwirkung mit MS-Medikamenten nutzbar. Den passenden Stromstecker-Adapter braucht man in manchen Ländern, zum Beispiel in England, um den Elektrorollstuhl aufzuladen. Weil die üblicherweise dünnen Reifen eines Rollstuhls im Sand versinken, gibt es an vielen Küsten Strandrollstühle mit breiten Reifen. Manche Patienten hätten ihm freudestrahlend davon berichtet, wie beglückend es für sie war, nach langer Zeit wieder bis an die Wasserkante heranfahren zu können, schließt Dr. med Martin Rösener.

Profitieren ältere Patienten (noch) von der Immuntherapie?

Es steht zwar fest, dass Medikamente, die wir heute gegen Multiple Sklerose einsetzen, in jüngerem Alter besser wirken. Ebenso ist bekannt dass es ein optimales therapeutisches Fenster zu Beginn der Erkrankung gibt. Dennoch wäre es zu einfach, zu sagen, dass eine Modulation ab 55 Jahren nicht mehr helfen würde, nur weil dann im Allgemeinen das körpereigene Immunsystem und damit auch entzündliche Autoimmunreaktionen nachlassen. Zumindest nicht bei jedem einzelnen Patienten. – Professor Hayrettin Tumani blickte umfassend auf die Immunseneszenz, also das Nachlassen des Immunsystems im Alter.

Ein paar statistische Fakten vorneweg: Der Krankheitsbeginn bei schubförmiger Multipler Sklerose liegt meist zwischen 20 und 30 Jahren, bei sekundär und chronisch progredienter MS sind die Patienten zu Beginn meist schon älter, nämlich 30-40 Jahre, so der Ärztliche Direktor der Fachklinik für Neurologie in Dietenbronn beim AMSEL-Symposium. Es gebe deutlich mehr Erkrankte über 50 als solche mit MS in der Kindheit.

Allerdings gibt es heute auch mehr MS-Erkrankte Ü55 als je zuvor. Das liegt an der allgemein höheren Lebenserwartung, an der verbesserten Diagnose wie an verbesserten Behandlungsmöglichkeiten der MS. Prof. Tumani berichtet von einer seiner Patientinnen, die erst mit 75 Jahren MS-Symptome zeigte. Weil sie etwa zeitgleich eine Hüft-OP hatte, lag der Verdacht als Ursache der Symptome - vor allem Gehprobleme - zunächst auf Begleiterscheinungen durch die OP. Mit 80 stellte sie sich vor und erhielt die Diagnose MS.

Gerade Komorbiditäten, also andere Erkrankungen neben der Multiplen Sklerose als Grunderkrankung, verändern den natürlichen Krankheitsverlauf gegenüber jüngeren Jahren. Und sie können bestehende MS-Symptome verstärken, so zum Beispiel vaskuläre Probleme. - Aber wie ältere Patienten behandeln?

Die meisten Zulassungsstudien schließen nur Patienten bis 55 Jahre ein, selten bis 65. Das erschwert die Analyse des Therapieeffektes in der Gruppe Ü55. Dennoch: Eine Meta-Analyse ergab eine starke Abnahme des Therapieeffektes in Abhängigkeit vom Alter. Nach dem 53 Lebensjahr zeigte sich hier kein Effekt der Therapien. Die hochwirksamen Therapien waren gegenüber der Basistherapien sogar nur in der Altersgruppe unter 41 Jahren besser. Anders formuliert: Alle MS-Wirkstoffe wirken in jüngerem Alter besser als in höherem. Hochwirksame Therapien wirken später schlechter.

Das heiße im Umkehrschluss jedoch nicht, dass Patienten über 53 Jahre keine immunmodulatorischen Medikamente mehr erhalten sollten. In der Gruppenanalyse zeigte sich zwar diese Tendez; man könne sie jedoch nicht auf jedes Individuum übertragen. Ausnahmen und individuelle Variabilitäten sind möglich.

Die Wirkung der Immuntherapie kann also im Alter nachlassen. Die Nebenwirkungen gerade der hochwirksamen Therapien hingegen nehmen im Alter zu und treten bei der PML auch früher auf (innerhalb des 24-Monatsfensters, ab dem bei jüngeren Patienten auch vermehrt mit einer PML zu rechnen ist).

Ganz klar der Schluss: Ältere Patienten sind besonders zu behandeln. Ihre Nebenerkrankungen muss man beachten, die Therapie eventuell anpassen, was Wirkung und Nebenwirkung angeht.

Mitgliederversammlung wählt Adam Michel zum Vorsitzenden

Nach den umfangreichen Informationen des Vormittags folgte die 45. ordentliche Mitgliederversammlung. Geschäfts- und Finanzbericht des Jahres 2018, Abstimmung über Satzungsänderungen, Ersatzwahl des Vorsitzenden und der Haushaltsplan 2020 waren Themen am 13. Juli 2019 in der Filderhalle in Leinfelden. Außerdem hieß es an dem Tag Abschied zu nehmen vom Vorsitzenden der AMSEL, Prof. Dr. med. Horst Wiethölter, der sein Amt aus persönlichen Gründen niedergelegt hat. (amsel.de hat berichtet).

Als neuen Vorsitzenden wählte die Mitgliederversammlung einstimmig (ohne Gegenstimmen und ohne Enthaltungen) Adam Michel, den langjährigen erfolgreichen  Geschäftsführer der AMSEL.

Die AMSEL gratuliert dem neuen Vorsitzenden sehr herzlich.

Redaktion: AMSEL e.V., 22.07.2019