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„Mitten im Leben – mit meinem Rollstuhl!“

Seit 1999 ist Ingrid Daum begeistert von Halliwick®, einer speziellen Therapie im Wasser. Aktiv und voller Lebensfreude trotzt sie der Krankheit Multiple Sklerose. Together 02/13 stellt die sympathische Freiburgerin vor.

Ingrid ist in einem kleinen Dorf in der Nähe von Celle, Niedersachsen, gemeinsam mit ihrer Halbschwester, ihren Eltern und ihrer Oma aufgewachsen. Nach der Schule ist sie mit 19 Jahren nach Bremen gegangen, um dort Wirtschaft und Sozialwissenschaften zu studieren. "Im Innersten meines Herzens wollte ich aber immer aus Deutschland weg."

Jede Semesterferien ist sie in den Urlaub gefahren und hat dabei ihr Herz für die kanarische Insel La Gomera entdeckt. "Mich haben die einfache, herzliche Lebensart und die Fröhlichkeit der Menschen begeistert. Zuerst habe ich mich in die Insel und dann in einen Mann verliebt."

El viaje de mi vida –
Die Reise meines Lebens

Mit Anfang 30 zieht Ingrid auf ihre Trauminsel, arbeitet in verschiedenen Tourismus-Bereichen – als Schiffsbegleiterin, Reiseverkehrskauffrau und Wanderführerin. "Eine unglaublich tolle und spannende Zeit. Ich konnte den Blick auf das Meer, die Wale und Delfine genießen, zwischen zwei Kulturen vermitteln, und meine Leidenschaft zum Wandern und zur Natur ausleben." schwärmt die heute 60-Jährige. "Gerade auch die Verbindung zwischen Sozialem, neue Menschen kennenzulernen, und ökonomischem Arbeiten hat mir viel Freude bereitet." 15 Jahre lang lebt sie ihren Traum und bringt 1988 ihre Tochter Tamara zur Welt. Mit Tamara scheint ihr Glück vollkommen zu sein.

Doch während ihrer Zeit auf La Gomera fing Ingrid an, ihr linkes Bein nachziehen zu müssen. Sie stürzte gelegentlich bei ihren Wanderungen hin. Und schob es darauf, dass sie durch die Umgebung und das Erklären unaufmerksam wurde. Nachdem ihre Beine nach dem Wandern auch oft müde wurden, kaufte sie sich Teleskopstöcke, um der vermeintlichen Überanstrengung Herr zu werden. "Rückblickend", so Ingrid "war es gut, dass ich damals noch nicht wusste, dass ich MS hatte. Sonst hätte ich mich wahrscheinlich nicht getraut, nach Spanien zu gehen oder ein Kind zu bekommen. Ich hätte meinen Traum nicht gelebt."

El viaje a un futuro incierto –
Die Reise in eine ungewisse Zukunft

Da bei Untersuchungen in Spanien nichts gefunden wurde, bat eine Freundin Ingrids sie bei einem Deutschland-Aufenthalt darum, einen Arzt aufzusuchen. Er verschrieb ihr Krankengymnastik, mit deren Hilfe sie es schaffte, Treppen wieder zu steigen. Etwas, das ihr nach und nach immer mehr Schwierigkeiten bereitet hatte. "Dieser therapeutische Erfolg war für mich der ausschlaggebende Punkt, in Deutschland zu bleiben.", reflektiert sie. "Schweren Herzens, denn das bedeutete für mich, meine 11-jährige Tochter in Spanien zurückzulassen, die dort ihr Leben, ihre Schule und Freunde hatte. Doch ich hatte immer die Hoffnung, die Ärzte finden etwas Konkretes und ich kann wieder zurückgehen." Es fiel ihr nicht leicht, sich eingestehen zu müssen, dass sie sich jetzt erst mal um sich selbst und ihre Gesundheit kümmern musste. "Ich hatte Angst vor der Zukunft."

Es dauerte ganze 10 Jahre bis die Diagnose Multiple Sklerose kam. In dieser Zeit besuchte Ingrid ihre Tochter so oft es ihr möglich war, bis Tamara im Alter von 16 zu ihrer Mutter nach Deutschland zog. Bei der Diagnose 2008 sei sie ihrem Neurologen fast um den Hals gefallen, "nicht vor Freude, weil ich MS habe, sondern weil das Kind nach 10 Jahren Ungewissheit und schleichender Verschlechterung endlich einen Namen hatte.", erinnert sich die Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlerin. Diese Ungewissheit sei für sie das schlimmste gewesen, so sagt sie. Sie fühlte sich ratlos und hilflos. Wusste keine Antwort auf die Frage der anderen, was mit ihr los sei. "Aber nun hatte ich die Möglichkeit, mich darum zu kümmern, mich zu orientieren und zu informieren".

 

"El tiempo no regresa, aprovecha cada momento del dia – Die Zeit kehrt nicht zurück, genieße jeden Moment des Tages."

Spanische Lebensweisheit

Kurz nach der Diagnose schließt sich die Freiburgerin der örtlichen AMSEL-Kontaktgruppe an. Bei ihrem ersten Besuch lernte sie eine schwerer Betroffene kennen. "Die Herzlichkeit der Gruppe, mit der sie die Frau empfangen, sie integriert haben, hat mich schwer beeindruckt. Auch wenn ihr Sprache nicht mehr möglich war – ihre Augen haben gestrahlt und Freude ausgedrückt.

Ich habe mich sofort wohl gefühlt." sagt die mittlerweile seit einem Jahr selbst ehrenamtliche Leiterin der Kontaktgruppe Freiburg/Breisgau "Hier gibt es Verständnis untereinander, auch wenn bei jedem die MS anders aussieht. Man muss die Angst davor verlieren, was alles Schlimmes passieren kann. Wir wissen alle nicht, was morgen ist. Das Leben ist nicht planbar."

Diesen Optimismus hat sich Ingrid erst erarbeiten müssen. Auch sie hatte Phasen, in denen es ihr nicht gut ging. Nachdem sie nicht mehr arbeiten konnte, hatte sie das Gefühl, nichts mehr erzählen zu können. Sie zog sich zurück. Hatte Angst einen Rollstuhl zu bekommen. "Irgendwie war wohl in mir diese irrationale Angst, wenn ich einmal im Rollstuhl bin, komme ich da nie wieder raus. Ohne zu sehen, welche Möglichkeiten ich durch ihn erst habe. Denn seit ich meinen Rollstuhl habe, geht es mir viel besser. Ich kann wieder am Leben teilnehmen. Andere haben ein Auto, ich habe einen Rollstuhl. Er ist ein Teil von mir geworden. Manchmal vergesse ich sogar, dass ich nicht mehr laufen kann."

El viaje a un nuevo y desconocido mundo –
Die Reise in eine neue, unbekannte Welt

Wenn man im Rollstuhl sitzt, ist es wichtig, sich zu bewegen, fit zu bleiben, um auch mobil zu bleiben. Das beweist Ingrid eindrucksvoll. Zweimal die Woche macht sie Therapeutisches Klettern und Gerätetraining. Trainiert zu Hause fast täglich mit ihrem motorunterstützten Bewegungstrainer. Zweimal die Woche hat sie Ergotherapie und Krankengymnastik nach Bobath. Seit 1 Jahr fährt sie regelmäßig mit einem Liegedreirad. Hat mit dem Trike, wie es auch genannt wird, schon an zwei Touren teilgenommen. Damit habe sie das Gefühl, nicht mehr behindert zu sein. "Das Leben spielt sich draußen ab, nicht in der Wohnung.", sagt die quirlige und unternehmungslustige Freiburgerin. Sie ist viel draußen unterwegs und der Austausch und Kontakt mit Menschen ist ihr wichtig. Daher trifft man Ingrid auch nicht selten im Theater, bei Ausstellungen, Musikveranstaltungen, klassischen Konzerten oder in der Universität bei einem Kolloquium an.

Als Ausgleich und zur Entspannung gönnt sie sich einmal die Woche eine Massage und geht regelmäßig Aquarellmalen in einer Gruppe. "Hier wird wenig über Krankheit geredet. Ich habe 1 ½ Stunden nur für mich. Spüre meine Individualität, denn jeder hat seinen eigenen Stil, malt auf seine Art. Kein Werk gleicht dem anderen. Ich habe ein anderes Verhältnis zu Farben bekommen, traue mir mehr zu."

Und seit schon mehr als 14 Jahren hat sie auch das Element Wasser für sich neu entdeckt. "Wasser ist ein tolles Element. Das hätte ich früher nicht sagen können. Denn ich konnte schon als Kind nicht schwimmen." Erst durch Halliwick®, eine Empfehlung ihrer Neurologin, lernte sie, das Wasser zu lieben. Es ist entspannend und aktive Therapie zugleich. Die Therapie bietet viele unterschiedliche Übungen, mit denen verschiedene Muskelgruppen angesprochen werden können. Man kann gezielt bestimmte Bereiche wie Hände, Beine oder Hüfte trainieren. "Für mich ist das meine Laufübung. Denn im Wasser kann ich das, was an Land nicht mehr funktioniert. Ich habe das Gefühl, der Körper erinnert sich wieder."

Im Wasser können wir uns besser bewegen, da das Gewicht wegfällt und der Auftrieb einen hält. Es ermutigt, experimentierfreudiger zu werden. "Das Wasser gibt mir sozusagen Kraft. Das fühlt sich einfach leicht, schwerelos und fantastisch an", sagt Ingrid begeistert.

Mittlerweile kann sie sich im Wasser sogar wieder alleine von der Rückenlage aufrichten und ihre Beinspastik ist deutlich besser geworden. Und bereits vor der Therapie beginnt das Alltags-Training. Denn durch das Aus- und Umziehen oder auch Duschen hinterher, übt sie tägliche Herausforderungen. Auf Rezept verschrieben, macht sie zweimal die Woche Halliwick®-Therapie und auch Wassergymnastik im nahegelegenen Thermalbad. "Es macht Spaß, und man gewinnt Vertrauen zurück."

"Was für mich gut ist, muss nicht gut für andere sein." Jeder, so appelliert Ingrid, soll den Mut entwickeln, auszuprobieren, was ihm gefällt. Die Krankheit hat das Bild vom Leben in ihr verändert. Früher nahm sie alles als selbstverständlich wahr. Mit MS habe sie gelernt, bewusster zu leben, das Leben zu schätzen und zu genießen.

"Wenn meine Seele okay ist, ist meine Krankheit nicht mehr so schlimm. Jeden Tag kann sich etwas ändern. Daher ist mein Motto: Gib jedem Tag die Chance, der schönste Deines Lebens zu werden." So hatte es einst der US-amerikanische Schriftsteller Mark Twain formuliert.

Quelle: AMSEL-Nachrichtenmagazin Together 02-13

Redaktion: AMSEL e.V., 31.07.2013