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Kommunikationsprobleme und Reparaturmechanismen

20. Preisverleihung der Sobek-Stiftung – Jubiläum mit bester Zukunftsperspektive. Die Preise gingen an Prof. Dr. Burkhard Becher, Dr. Sarah-Christin Staroßom und PD Dr. Simon Hametner.

Am 29. November 2019 wurden die Forschungspreise der Roman, Marga und Mareille Sobek-Stiftung für herausragende Leistungen in der Grundlagenforschung der Multiplen Sklerose verliehen. Ort des feierlichen Geschehens war erneut die Musikhochschule Stuttgart. Die Schirmherrschaft lag traditionell beim Wissenschaftsministerium Baden-Württemberg, die Organisation bei AMSEL .

Der mit 100.000 Euro und damit europaweit höchstdotierte Preis für die MS-Grundlagenforschung ging an Prof. Dr. rer. nat. Burkhard Becher aus Zürich. Mit dem Nachwuchspreis und je 10.000 Euro Preisgeld  wurden Frau Dr. rer. nat. Sarah-Christin Staroßom, Berlin, und Privatdozent Dr. med. univ. Simon Hametner aus Wien ausgezeichnet.

MS – "nur" ein Kommunikationsproblem auf Zellebene?

Die  Forschungsgebiete des Sobek-Hauptpreisträgers 2019, Prof. Dr. rer. nat. Burkhard Becher (50),  reichen von der MS-Immunologie bis hin zu grundlegenden Fragen der Markscheiden-Pathologie, zur Rolle von verschiedenen Immunzellen und deren Regulation und den komplexen Zytokin-Netzwerken bei Hirnentzündungen. Bereits 2004 wurde der heutige Direktor des Instituts für Experimentelle Immunologie der Universität Zürich mit dem Nachwuchspreis der Sobek-Stiftung ausgezeichnet. Er gehört damit zu den wenigen Wissenschaftlern, die bisher beide Sobek-Preise erhielten, wie Laudator Ulrich Steinbach, Ministerialdirektor und Amtschef des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg, hervorhob.

Der gebürtige Kölner Becher ist leidenschaftlicher Forscher,  der auf Veranstaltungen als Botschafter für die MS-Forschung agiert. Denn er hat die Gabe, die komplexen Inhalte seiner Arbeiten auch einem breiten Publikum verständlich und anschaulich nahezubringen.

Eine Kostprobe bekamen die über 200 Gäste der Festveranstaltung in seinem Kurzvortrag, in dem er die Rolle der Zytokine beschrieb. Professor Becher bezeichnete die etwa 400 bekannten Zytokine, das sind Eiweiße, die Wachstum und Differenzierung von Zellen regulieren, als „Sprache des Immunsystems“. Mit 400 „Wörtern“ spricht das Immunsystem eine relativ komplexe Sprache. Wenn hier Missverständnisse auftreten, kann das katastrophale Folgen haben. Als Beispiel dafür brachte der Biologe, Biochemiker und Genetiker ein Beispiel aus dem Alltag: Auf dem Bildschirm erscheint die Meldung „Computer arbeitet, nicht ausschalten“. Die Botschaft ist klar: nicht ausschalten. Anders jedoch der Hinweis:  „Computer arbeitet nicht, ausschalten“. Diese Botschaft ist ebenfalls klar: ausschalten. Allerdings: Systemabsturz garantiert. Das kleine Komma bringt also die große Wirkung.

Ähnlich in der Kommunikation auf Zellebene. Die Hypothese Bechers: Die MS ist vor allem eine Krankheit der Misskommunikation zwischen Immunzellen und vielleicht gar nicht ein so gezielter spezifischer Immunangriff gegen das Gehirn. Mittels hochentwickelter Verfahren und Geräte sowie künstlicher Intelligenz zum Bewältigen riesiger Datenmengen ist es ihm und seinem Team gelungen, Zytokine zu “messen“ und ihre Kommunikation zwischen den Zellen zu entziffern. Eines ihrer Ergebnisse: Ein bestimmtes Zytokin kommt bei MS häufig vor. Fälschlicherweise aktiviert es Fresszellen, die folgerichtig Myelinscheiden zerstören. Das Immunsystem richtet sich also aufgrund von  Missverständnissen in der Kommunikation gegen sich selbst.

Chitinasen essenziell für körpereigene Reparaturmechanismen

Die 36-jährige Biochemikerin und Medizinerin Dr. rer. nat. Sarah-Christin Staroßom erforscht an der Charité – Universitätsmedizin Berlin immunvermittelte Reparaturmechanismen am zentralen Nervensystem.

In ihrer Dissertation befasste sich die gebürtige Leverkusenerin mit der Rolle von neuralen Stammzellen, Mikroglia und Oligodendrozyten für die Neuroregeneration bei der Reparatur von entzündungsbedingten Hirnschäden.

Im Zentrum ihrer aktuellen Forschungsarbeiten steht die Frage, wie MS-bedingte Schädigungen von Markscheiden abgeschwächt und die Reparaturmechanismen angekurbelt werden können. „Dies ist ein Gebiet der MS-Forschung, das heute als eines der wichtigsten unter den aktuellen Forschungsbereichen gilt“, betonte Prof. Dr. Klaus V. Toyka, Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Sobek-Stiftung, in seiner Laudatio.

In ihrer letzten Arbeit konnte Dr. Staroßom ein für die Hirnforschung bisher nicht relevant erscheinendes Protein, eine Chitinase, als Schlüsselfaktor für die körpereigene Oligodendrozyten- und damit Myelinscheiden-Reparatur identifizieren. Die Preisträgerin konnte zeigen, dass bestimmte Chitinasen im Tiermodell die Reparatur von Oligodendrozyten anregen und MS-ähnliche Symptome verringern. Außerdem ergaben erste Versuche in der Petrischale, dass Chitinase-ähnliche Proteine  die Neubildung von menschlichen myelinisierenden Oligodendrozyten anregen. Diese ist eine Grundlage für die Entwicklung einer klinischen Therapie der MS beim Menschen.

Eisenablagerungen – Oxidationsprozesse – Zellabbau

Der zweite Sobek-Nachwuchspreisträger, Privatdozent Dr. med. univ. Simon Hametner (35),  beschäftigt sich seit Jahren mit der Frage, welche Bedeutung Eisenablagerungen im Hirngewebe, speziell in den chronischen MS-Läsionen haben

In einem ersten Schritt seiner Forschung lieferte der Wiener Neuropathologe eine umfassende Darstellung der durch Eisenablagerung bedingten Veränderung in den unterschiedlichen Erkrankungsstadien der MS. Zunächst in post-mortem Untersuchungen.  „Die entscheidende Frage war, ob sich diese aus der Neuropathologie abgeleiteten Prozesse bei MS-Patienten schon zu Lebzeiten und ohne jegliche Gefährdung mit der Kernspin-Tomographie und –Spektrometrie erfassen lassen“, unterstrich Laudator Prof. Dr. Klaus V. Toyka, die Bedeutung der Forschungsarbeit.

Dr. Hametner verglich die im MRT sichtbaren Veränderungen eines großen Kollektivs von MS-Patienten mit den Untersuchungsergebnissen an Hirngewebe verstorbener MS-Patienten. Er fand heraus, dass Läsionen, die im MRT einen Eisenring aufweisen, chronisch aktive Herde sind. Alles deutet darauf hin, dass die Demyelinisierung bei MS Eisen freisetzt, das wiederum von anderen Hirnzellen aufgenommen wird, die einen Zellabbau durch oxidativen Stress verursachen. Die Anwesenheit von Eisen scheint das Fortschreiten der Neurodegeneration zu befördern. Die Studie wird kontinuierlich weitergeführt und ist in ihrer Art international bis dato einzigartig. Der Nachweis der Eisenringe sei unter anderem ein wichtiges Kriterium bei der Differentialdiagnose der MS, so der Preisträger in seinem Vortrag.

Professor Toyka sprach von einer „hocherfreulichen Entwicklung der MS-Forschung“ und dankte der Sobek-Stiftung für ihre Bereitschaft, im zweiten Jahr in Folge gleich zwei herausragende Nachwuchs-Wissenschaftler auszuzeichnen, die mit ihren unterschiedlichen Ansätzen die MS-Forschung einen großen Schritt vorangebracht haben.

Landkarte des Immunsystems im Gehirn

Im Zentrum der Forschungsarbeit von Prof. Dr. med. Marco Prinz, Sobek-Preisträger des Jahres 2014, steht die Verortung und Aufgabenteilung von Mikroglia, den im zentralen Nervensystem aktiven Fresszellen, sowie ihre Funktion für die Pflege des Immunsystems. Dank neuer Mikroskoptechnologien ist es möglich, die Mikroglia im Einzelnen zu betrachten, sprich die verschiedenen Zelltypen zu identifizieren und ihren Funktionen wie „Alarmsystem, Müllabfuhr oder Gärtner“ zuzuordnen. Denn, so Professor Prinz in seinem anschaulichen Vortrag, diese Zellen haben umfangreiche pflegende wie auch modulierende Funktionen beispielsweise für die Synapsen im Gehirn. So entsteht eine Landkarte des Immunsystems und seiner möglichen Störungen. Ein weiterer Meilenstein in der Ursachenforschung von MS, Demenz und psychischen Erkrankungen.

„Die Zukunft hat viele Namen“, hatte Prof. Jost Goller, Kuratoriumsvorsitzender der Sobek-Stiftung, in seiner Begrüßung den französischen Romancier Victor Hugo zitiert. „Für die Schwachen ist sie das Unerreichbare, für die Furchtsamen ist sie das Unbekannte, für die Tapferen ist sie die Chance.“ Herausforderung und Ansporn zugleich sei sie für die Wissenschaftler, ihre Forschungsarbeit konsequent voranzutreiben, und Chance für die weltweit 2,5 Millionen MS-Betroffenen, denen sie eine Perspektive geben. Den Aspekt Hoffnung griff Adam Michel, Vorsitzender von AMSEL e.V., in seinem Grußwort auf: Er erinnerte an Mareille Sobek, die im Alter von 21 Jahren aufgrund damals noch fehlender Behandlungsmöglichkeiten an den Folgen der MS starb. Ihre Eltern riefen die Stiftung ins Leben mit dem Ziel, die Erforschung der MS finanziell zu unterstützen, um Schicksale zu verändern. Die Vorsitzende des DMSG-Bundesverbandes, Prof. Dr. Judith Haas, verwies auf die Arbeit der DMSG und ihrer Landesverbände für MS-Erkrankte und betonte, die Forschungen der Sobek-Stiftungspreisträger seien herausragende Bausteine zum Verständnis der MS. In seinem Schlusswort schlug Gernot Kaes, Vorsitzender des Vorstands der Sobek-Stiftung, den Bogen zurück: Er bezeichnete die Preisträger als Hoffnungsträger. Zum feierlichen Rahmen trug die Musik des Ensembles „Studio Alte Musik“ mit leichtfüßigen barocken Stücken von Antonio Vivaldi und Henry Purcell bei.

Redaktion: AMSEL e.V., 03.12.2019