Alle zwei Jahre bietet die AMSEL eine Fortbildungsveranstaltung für Ärzte aus Klinik und Praxis, um sie dabei zu unterstützen, MS-Erkrankte optimal behandeln zu können. Da bei der Krankheit Multiple Sklerose aber nicht nur die behandelnden Ärzte, sondern in der Regel ein interdisziplinäres Team für die Behandlung zuständig ist, richtete sich das Symposium 2018 erstmals auch an Physio- und Ergotherapeuten.
Der diesjährige Titel „Gemeinsam gegen MS – Interdisziplinäre Behandlungsmöglichkeiten und neue Therapieoptionen“ wurde zum Credo des Symposiums. Die Anmeldezahlen zeigten, dass das Konzept ankommt. - Vereintes Know-how.
Den rund 80 auf die Behandlung und Versorgung MS-Erkrankter spezialisierten Teilnehmern wurde neben fachlichen Informationen in fünf spannenden Vorträgen zu aktuellen medikamentösen wie nicht-medikamentösen Entwicklungen der MS-Therapie auch die Möglichkeit geboten, sich fachlich wie auch fachüber- und ineinandergreifend auszutauschen.
Sportliche Aktivität – schädlich oder nützlich bei MS?
Ganz klar nützlich! So das Fazit von Prof. Dr. Klaus Pfeifer. Die mittlerweile gut erforschte Studienlage zu MS und körperlicher Aktivität zeige, dass Sport kein erhöhtes Risiko für einen Schub oder Nebenwirkungen darstelle und keine dauerhaften Verschlechterungen der Symptome bewirken könne. Stattdessen sogar gute Evidenzen und positive Effekte bei Menschen mit MS habe – auf Depressionen, Kraft und Ausdauer, Mobilität, Gleichgewicht und Lebensqualität.
Der Wissenschaftler am Department für Sportwissenschaft und Sport der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Arbeitsbereich Bewegung und Gesundheit, ist davon überzeugt, dass nur eine konsequente Verhaltensänderung einen körperlich aktiven Lebensstil ermöglichen kann. Das erfordere Umdenken auf Seiten der Betroffenen, aber auch auf Seiten der Therapeuten und der Umwelt. Die viel zitierte Redensart „Sport ist Mord!“ sei längst überholt und müsse vielmehr ergänzt werden, um „...bis man damit anfängt und merkt, dass es gut tut.“
Physiotherapie bei MS – konventionell oder evidenzbasiert?
Das eine schließt das andere nicht aus. So die Antwort von Klaus Gusowski. Der Leitende Physiotherapeut am Neurologischen Rehabilitationszentrum Quellenhof in Bad Wildbad betonte, dass die korrekte Diagnosestellung Grundlage für eine wirkungsvolle Therapie sei, gleich ob konventionell oder evidenzbasiert. Eine Therapie müsse auf die individuellen Bedürfnisse, Symptome und Ressourcen des MS-Betroffenen abgestimmt sein.
Konventionelle Physiotherapiekonzepte (wie Bobath, Brunkow, Vojta oder Feldenkrais) beruhen auf neurowissenschaftlichen Erkenntnissen und seien eher erfahrungsbasiert im Unterschied zum Beispiel zum Gangtrainer, einer evidenzbasierten Methode der Physiotherapie. Auch wenn die Effekte konventioneller Methoden oft nicht in Studien nachgewiesen seien, sei das nach Ansicht des erfahrenen, staatlich geprüften Physiotherapeuten nicht gleichzusetzen mit fehlender Wirkung. „Konventionell“ heiße nicht „altmodisch“, denn auch diese Verfahren würden sich entsprechend zeitgemäß weiterentwickeln. Sein Plädoyer: konventionelle und evidenzbasierte Therapien haben beide ihre Berechtigung und ihre Wirkung und seien individuell einzeln und in Kombination einsetzbar.
Behandlung der progredienten MS – endlich möglich oder unerfüllte Hoffnung?
Teils möglich, aber es bleibt weiterhin zu hoffen. Zunächst einmal müsse man unterscheiden, ob es sich um eine sekundär chronisch progrediente Multiple Sklerose (SPMS) oder eine primär chronisch progrediente MS (PPMS) handle, so Prof. Dr. med. Hayrettin Tumani. Die SPMS sei als eine Fortentwicklung der ursprünglich schubförmig begonnenen MS zu verstehen, die mit und ohne Schübe auftreten kann, während die PPMS einen von Anfang an progredienten Verlauf ohne Schübe beschreibe. Der Ärztliche Direktor der Fachklinik Dietenbronn nannte die charakteristischen Merkmale einer PPMS, die ca. 10 % der MS-Erkrankten betreffe, sich aber gänzlich von der schubförmigen Form unterscheide (mittleres Erkrankungsalter: 40 Jahre; häufiges Erstsymptom: spastische Paraparesen; kaum T2-Läsionen).
Das Mitglied im Ärztlichen Beirat der AMSEL verdeutlichte, dass sich vor allem der Übergang von einer schubförmigen MS in eine progrediente Phase mittlerweile therapeutisch gut hinauszögern lasse, was es auch zu nutzen gelte. Außerdem stellte er die aktuell verfügbaren Therapieoptionen bei fortschreitender MS vor – bei SPMS Betaferon und Mitoxantron, bei PPMS Ocrelizumab – und ging auf weitere aktuell in der Erprobung und Entwicklung befindlichen Substanzen wie Biotin (PPMS), Siponimod (SPMS) und Ofatumumab (SPMS) ein. Zudem effizient und zeit- wie wirkstoff-unabhängig seien auf jeden Fall regelmäßige sportliche Aktivität und Physiotherapie – auch bei fortschreitender MS.
Risiken der modernen Immuntherapie – inakzeptabel oder unvermeidlich?
Kommt drauf an. So die klare, wenn auch nicht eindeutige Antwort von Privatdozent Dr. med. Mathias Buttmann. Alles was stärker wirke, berge tendenziell auch Risiken. Es komme darauf an, was man im Einzelfall aus dem therapeutischen Angebot mache. Eine gute Therapieentscheidung erfordere vom Arzt neben einer realistischen Einschätzung der Wirk- und Nebenwirkungsprofile, einer gründlichen Aufklärung sowie einer konsequenten Therapiekontrolle vor allem auch eine gute Kenntnis des Patienten. Nicht nur seiner MS, sondern auch seiner Persönlichkeit, Einstellungen, Ängste und Erwartungen sowie Lebenssituation und Zukunftspläne. Alles könne die gemeinsame Wahl der Therapie beeinflussen. Das oberste Therapieziel sei eine bestmögliche individuelle Lebensqualität. Hierfür könnten teils auch nicht unerhebliche Therapierisiken in Kauf genommen werden.
Das Mitglied im Ärztlichen Beirat der AMSEL ging u.a. auf die potentiell schwerwiegende, teils tödlich verlaufende Virusinfektion PML ein, die eine Nebenwirkung verschiedener MS-Immuntherapeutika sein kann. Das Risiko (Stand: 06/2018) an einer therapiebedingten PML zu erkranken, liege unter der Behandlung mit Natalizumab derzeit bei 1:237, mit Fingolimod bei 1:12.000 und mit Dimethylfumarat bei 1:50.000. Wichtig für eine realistische Einschätzung solcher Statistiken sei es, sie in Beziehung zu allgemeinen Lebensrisiken zu setzen. Als Vergleich nannte der Neurologe das Risiko, bei einem Verkehrsunfall getötet zu werden. Das liege für ein Jahr bei 1:10.000, über das gesamte Leben bei etwa 1:120. Trotzdem blieben die meisten Menschen nicht zu Hause.
Paradigmenwechsel bei der MS-Therapie?
Kommt drauf an. Ziel einer Behandlung sollte nach Prof. Dr. med. Mathias Mäurer immer sein, das bestmögliche Ergebnis für den Patienten zu erzielen – nach einer ausführlichen Nutzen-Risiko-Abwägung und bei guter Krankheitskontrolle. Das bedeute aber auch, dass man bei ungünstigen prognostischen Indikatoren einer aktiven MS konsequent eingreifen und unter Umständen auf „high efficacy“-Therapien zurückgreifen müsse, um eine Behinderungsprogression so lange wie möglich hinauszuzögern. Denn vor allem in der „Frühphase“ einer schubförmigen MS sei das „Behandlungsfenster“ noch groß und mit jedem weiteren Schub steige das Risiko einer Behinderungszunahme.
Der Chefarzt der Klinik für Neurologie am Klinikum Würzburg-Mitte appellierte an die Kollegen „wachsam zu bleiben“, immer mit Blick darauf, welche hohen persönlichen Konsequenzen mit einer Verzögerung der Behandlung für den Betroffenen verbunden sein könnten und aus Sorge vor möglichen Nebenwirkungen nicht „unterzutherapieren“. Insbesondere bei einer aktiven MS gelte die sorgfältige Abwägung zwischen „Efficacy first“ und „Safety first“, um die Lebensqualität MS-Erkrankter langfristig erhalten zu können.
Eine ausführliche Berichterstattung finden Sie in der Ausgabe 04.18 des AMSEL-Nachrichtenmagazins „together“.
Das 8. Stuttgarter Symposium der AMSEL war von der Landesärztekammer Baden-Württemberg als Fortbildungsveranstaltung anerkannt. Für die Unterstützung bei der Durchführung dankt AMSEL den Unternehmen Almirall, Biogen, Merck, Mylan, Novartis, Roche, Sanofi Genzyme und Teva.
Redaktion: AMSEL e.V., 26.09.2018