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Gemeinsam mit MS voll im Leben

Voll im Leben, obwohl beide Partner Multiple Sklerose haben? Dass das geht, zeigen Miriam und Carsten, ein sympathisches Paar aus Allensbach. Mit einer ordentlichen Portion Kampfgeist stehen sie trotz beträchtlicher Einschränkungen durch ihre MS mitten im Leben, mit „Freude im Herzen“, wie es Carsten formuliert.

Als sich Miriam und Carsten vor gut drei Jahren kennenlernten, war Carsten (46) schon ein MS-Routinier. Der Marathonläufer und Handballer hatte die Diagnose primär progrediente MS 2002 im Alter von 27 Jahren bekommen, ein harter Schlag für sein Ego. Seine Karriere als Bankkaufmann ging trotz MS steil bergauf zum Filialleiter, endete dann aber mit 35 Jahren mit der Berentung. Carsten hat heute gerade noch 20 Prozent Sehfähigkeit, leidet unter Fatigue, fortschreitender Gangunsicherheit und Koordinationsproblemen. Sein Glaube an Gott half ihm durch schwierige Zeiten und gibt ihm die Kraft, auch diese Extremsituation zu meistern. Heute ist er zufrieden mit seinem Leben.

Noch größer war seine Freude, als er in einer MS-Selbsthilfegruppe in Konstanz die 43-jährige Miriam traf. Nach ungeklärten Sehstörungen und Erschöpfungszuständen wurde die Betriebswirtin und Immobilienfachfrau auf Burn-out behandelt. Als Gangunsicherheit hinzukam, wurde sie in eine neurologische Klinik überwiesen. Liquordiagnostik und Bildgebung brachten die Diagnose schubförmige MS. Miriam war 37, und schon zwei Jahre später wurde sie aufgrund der fortgeschrittenen Einschränkungen durch die MS (heutige Sehfähigkeit 25 Prozent auf einem Auge, 20 Prozent auf dem anderen) berentet. Ein heftiger Einschnitt für die ehrgeizige junge Frau, die in ihrer Arbeit aufgegangen war.

Anfangs verdrängte Miriam die Krankheit, wollte keine Details wissen. Es dauerte lange, bis die gebürtige Ravensburgerin offen darüber sprechen konnte, und noch länger, bis sie sich auf Drängen ihrer Freunde der Konstanzer Selbsthilfegruppe anschloss. Eine große Überwindung, denn damit akzeptierte sie ihre Krankheit endgültig auch in der Öffentlichkeit. Carsten ist es gelungen, Miriam aus der passiven Opferrolle heraus, in eine glückliche Beziehung und buchstäblich zurück ins Leben zu holen.

Stark durch den anderen

„Bin ich schwach, bist du stark. Und umgekehrt“, so bringt Carsten ihre Partnerschaft auf den Punkt. Hat sie einen schlechten Tag, fängt er sie auf, mit stillem Verständnis, ohne Erklärungsnot oder mit Aufmunterung. Hat er einen schlechten Tag, weil ihn das „Teufelchen“ plagt, treibt sie es ihm mit Humor aus. Das Teufelchen steht für die Selbstzweifel nach dem Motto „Kann ich das denn noch?“ Das war auch die große Frage vor dem Open-Air-Festival, das die beiden erst kürzlich nach langer Isolation durch die Coronapandemie erstmals wieder besucht haben. Sie hatten u.a. Bedenken wegen der Anreise, der Wegstrecke zu Fuß bis zur Tribüne, ihrer eigenen Belastbarkeit. Sie setzten sich über die Zweifel hinweg und gingen das Wagnis ein – es hat funktioniert! Nach zwei Tagen Festival-Trubel waren sie zwar erschöpft, aber überglücklich, dass sie diese Herausforderung nach so langer Abstinenz geschafft haben. Es war Balsam für die Seele!

Die beiden vertrauen einander blind – leider fast im wahrsten Sinne des Wortes. Den Alltag stemmt das Paar ohne feste Aufgabenverteilung, allerdings mit Unterstützung ihrer Familie und Freunde sowie mit Einsatz von Lieferdiensten und einer Haushaltshilfe. Ihre Rollen in der Partnerschaft haben sich inzwischen verlagert: Hatte anfangs Carsten seine „Miri“ gestützt, sie motiviert, ihr das Joggen nahe- und das Schwimmen beigebracht, muss heute Miriam ihrem Liebsten öfter Stütze sein. Wenn sein Gleichgewichtssinn aussetzt, und das geschieht immer öfter, kann er ohne seine Walking-Stöcke oder Miriams Hand nicht mehr gehen. „Sie ist mein Fels in der Brandung“, sagt der ehemalige „Vollblutbänker“ mit einem Zwinkern.

Wer nicht aktiv bleibt, verliert

Die Krankheit ist zwar zentrales Lebensthema, aber die Hauptrolle in ihrem Leben geben die beiden nicht aus der Hand. Ihr Lebenselixir ist der morgendliche Sport: An guten Tagen marschiert Carsten 1,5 Kilometer mit seinen Walking-Stöcken und entsprechenden Pausen, Miriam joggt gut drei Kilometer. Bei gutem Wetter geht es zum Schwimmen in den See. Das kühle Wasser tut dem Paar, das unter dem Uhthoff-Syndrom leidet, besonders gut. Miriam ist „stolz wie Bolle“, dass sie als Erwachsene das Schwimmen gelernt und einen Riesenspaß daran hat.

„Leistungsorientiert war ich schon immer, die MS hat  mich zur richtigen Kämpferin gemacht, und ich kann ganz schön dickköpfig sein“, beschreibt sie sich selbst. Carsten pflichtet bei: „Ich kann beißen, notfalls auch auf die Zähne!“ Und das kann er gut gebrauchen, wenn er wie neulich wieder gestürzt ist und sich die Rippen geprellt hat.

Die tägliche Sporteinheit gibt ihnen einen Energie-Kick für den Tag. Nur wenn es die Tagesform gar nicht zulässt, wird das beschlossene Programm auf den nächsten Tag vertagt. Sich gehen lassen, dem „Teufelchen“ nachgeben, sei für MSler fatal, ist Carsten überzeugt, der seit 2019 auch Leiter der AMSEL-Kontaktgruppe Konstanz ist. Aktivität sei das beste Mittel, um die Krankheit in Schach und das Selbstvertrauen auf Kurs zu halten, so ihre Erfahrung. Und: Man muss schon einige Kräfte investieren, sei es in die Aktivitäten der Kontaktgruppe oder eine Reise an ihr Lieblingsziel Mailand. Aber was man dafür bekommt, ist eine grandiose Bereicherung: Horizonterweiterung, tolle Begegnungen und Selbstbestätigung. Das Gefühl, mitten im Leben zu stehen, ist inklusive.

Inklusion und Teilhabe fallen nicht vom Himmel, dafür muss man selbst etwas tun, so ihre Überzeugung. Deshalb engagieren sie sich ehrenamtlich in der Kontaktgruppe Konstanz der AMSEL, er zusammen mit Ulrike Soldner als Kontaktgruppenleiter, sie mit im Organisationsteam. Was die beiden anderen MS-Betroffenen mitgeben möchten: „Versteckt euch nicht, zeigt euch, bittet ohne Scheu um Hilfe. Ballert euch nicht mit Problemen zu, die ihr noch gar nicht habt. Lebt euer Leben!“

Quelle: together, 02.22

Redaktion: AMSEL e.V., 11.01.2023