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Erster virtueller Aktionstag für junge MS-Betroffene

Fast 20 Jahre sind seit dem ersten Aktionstag der AMSEL im Jahr 2002 vergangen. Anders als sonst fand dieser 2021 erstmals rein virtuell statt. 2002 wie 2021 aber gleich: Themen, die speziell junge Menschen mit MS bewegen. Dazu Information, Interaktion, Austausch und Begegnung mit anderen MS-Betroffenen und Experten samt Beantwortung individueller Fragen rund um die MS.

„MS-Therapie 2021: Ein Update“

PD Dr. med. Oliver Neuhaus, Chefarzt Neurologie am SRH Krankenhaus Sigmaringen und Ärztlicher Beirat der AMSEL, präsentierte in einem konzentrierten Update die Vielfalt der heutigen Therapiemöglichkeiten. „Time is brain“, das Leitmotiv der modernen Schlaganfallversorgung, sollte zunehmend auch im Zusammenhang mit der Immuntherapie bei MS Einzug halten: Die Diagnose sollte frühzeitig und korrekt erfolgen, ebenso die Therapie. Hier gilt: lieber eine noch nicht optimal angepasste Therapie als gar keine. Und dies in Absprache zwischen Patient und dem Neurologen, unter Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse, Risikofaktoren, Abwägung der Nebenwirkungsprofile der zugelassenen Medikamente und weiterer Faktoren. Dr. Neuhaus spannte den Bogen von der akuten Schubtherapie mit Kortison über die Immuntherapien, die es seit den 90er Jahren gibt, mit Pionieren wie Interferonen und Glatirameracetat, orale Einzelwirkstoffe wie Teriflunomid, Dimethylfumarat und Cladribin bis zu den monoklonalen Antikörpern (Wirkstoffe enden auf –mab) und S1P-Rezeptormodulatoren (Wirkstoffe enden auf –imod). Bei aller Vielfalt: Ziel jeder Medikation sollte der Stillstand der Krankheit sein.

Ein aktuelles Thema war das Zusammenwirken von MS unter Immunmodulatoren und der Corona-Impfung. Nach aktuellem Kenntnisstand, so der Experte, reichen zwei Impfungen aus, um vor schweren Covid-19-Verläufen, auch verursacht durch die Delta-Variante, zu schützen. Die Antikörperkonzentration sei nicht der alleinige Indikator für die Schutzwirkung der Impfung.

Begegnungen im Open Space

Die Teilnehmer konnten in einem virtuellen „Open Space“ (hierbei gibt es keinen vorher festgelegten Referenten und vorgegebene Themen) selbst aktiv ihre persönlichen Themen einbringen und sich als Experte in eigener Sache dazu untereinander austauschen, sich gegenseitig Tipps geben. Insgesamt bestimmten sie 10 Themen-Räume ganz unterschiedlicher Couleur: Jeder konnte nach Interesse von Raum zu Raum „schlendern“, sich da und dort umhören und einbringen. Da man nicht gleichzeitig überall sein konnte und damit man nichts verpasst, wurden die Beiträge jedes Themen-Raums auf einem virtuellen Flipchart zusammengefasst und später im Plenum präsentiert. Drei Beispiele:

  • MS im Arbeitskontext: Es wurden Erfahrungen zum Umgang mit der Krankheit im Job ausgetauscht. Einigkeit herrschte darüber, dass gerade die unsichtbaren Symptome Außenstehenden schwerer zu erklären sind, der Rollstuhl dagegen oft als Kommunikationshilfe dienen kann.
  • Psyche, sozialer Rückzug und Isolation durch Corona: Gute Ratschläge bspw. aus sozialen Medien werden oft als Belastung empfunden, die Familie und Freunde will man nicht ständig mit düsteren Gedanken belasten. In einer Partnerschaft ist mancher zu sehr mit sich und der Krankheit beschäftigt. Hier kann der Austausch mit anderen MS-Betroffenen helfen.
  • Positive Effekte einer MS-Diagnose: Dass es sie gibt, bestätigten die Teilnehmer der Gruppe. Man bekommt z.B. selbst Grenzen gesetzt und lernt, anderen Grenzen zu setzen. Ganz nach dem Credo: nicht nur träumen, sondern seine Träume leben!

Mit Experten auf Augenhöhe

Nach einer kurzen Vorstellungsrunde luden die sieben unterschiedlichen Experten in „meet the expert“  zur Fragenrunde ein. Alle Fragen, die einen persönlich bewegen, konnten eingebracht werden, entweder vorab gepostet, schriftlich im Chat oder direkt an den Experten gestellt. So beantworteten z.B. Dr. Kristina Schüle, Leitende Ärztin, Zentrum Sozialmedizin Stuttgart, und Dr. Karin Laudien, beide von der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg, alle Fragen zu Prävention, Reha, Erwerbsminderung, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, Umschulungen etc. Dr. Alexander Tallner, Sportwissenschaftler an der Universität Erlangen-Nürnberg, bezeichnete Fitness-Tracker als ein wichtiges Messinstrument für körperliche Aktivität. Trotz möglicher Ungenauigkeiten (abhängig von Model und wo am Körper sie getragen werden) würden sie im Gegensatz zur Messung der Herzfrequenz, die auch auf Stress reagiert, ein aussagekräftiges Bild geben oder zumindest als Orientierungs- und bestenfalls Motivationshilfe dienen.

PD Dr. Oliver Neuhaus stand Rede und Antwort zu Themen rund um die MS-Medikation: Entwarnung gab er bezüglich Krebsrisiko bei modernen Immunmodulatoren. Siponimod könne am Anfang der Einnahme zu Herzproblemen führen, die sich als Kurz- und Schweratmigkeit äußern, aber sich meist bald zurückbilden. Prof. Dr. med. Peter Flachenecker, Chefarzt des Neurologischen Rehabilitationszentrums Quellenhof und Vorsitzender des Ärztlichen Beirats der AMSEL, wurde zu Reha-spezifischen Themen befragt wie bspw. Beantragung einer Komplextherapie in einer Akutklinik mit anschließender Reha beim Kostenträger. Zum Thema Fatigue präsentierte er einen ganzen Strauß an Maßnahmen vom Energiemanagement bis zur medikamentösen Unterstützung z.B. bei Aufmerksamkeitsstörungen.

Sabine Lamprecht, M. Sc. Neurorehabilitation und Physiotherapeutin, hält bei Blasenproblemen aufgrund einer Beckenbodenschwäche das Hinauszögern des Toilettengangs für ein effizientes Beckenbodentraining. Im Übrigen sei es wichtig, Physiotherapie nicht als Wellness zu sehen, sondern als Möglichkeit, das Leistungsvermögen mit spezifischen Bewegungen zu stärken. Monika Karl von der AMSEL-Beratungsstelle Nordbaden mit Schwerpunkt Sozialarbeit und Systemische Familientherapie beleuchtete das Thema Kinderwunsch mit MS und Umgang mit der eigenen Kraft.

„MS und Sport“

Ein letzter Höhepunkt des Aktionstages war der Vortrag von Sportwissenschaftler Dr. Alexander Tallner zum Thema „MS und Sport“. Er sieht Bewegung als ein Breitbandmedikament! Darreichungsformen seien Kraft- und Ausdauertraining, eine Kombination aus beiden sowie Gleichgewichtstraining, allesamt wirksam auf die Krankheitsprozesse wie Entzündungsaktivität und Gehirnvolumen, auf die Alltagskompetenzen wie Gehstrecke und Sturzprävention und auf das Wohlbefinden bei Depressionsbewältigung und Lebensqualität. Selbstbeobachtung sei die Basis bei der Wahl und Dosierung des Sportprogramms. Mit dem (frommen) Wunsch „Ich mache künftig mehr Sport“ komme man allerdings nicht allzu weit. Es müssen schon sehr konkrete, erreichbare und messbare Ziele her, und Störfaktoren müssen von vornherein eingeplant werden, Beispiel: „Ich mache 500 Schritte mehr am Tag, an 4 von 7 Tagen, in den nächsten 4 Wochen, und das Wetter spielt keine Rolle." Eine wertvolle Unterstützung sieht der Sportexperte in Fitness-Trackern: sie bieten eine gewisse Selbstkontrolle - aber Vorsicht: zu viel Kontrolle kann süchtig machen!

Fazit: Informativ und abwechslungsreich

So sportlich wie dieser Vortrag war das gesamte Tagesprogramm: Fachinformation satt, jede Menge Begegnungen mit Experten und lebhafter Austausch mit anderen MS-Betroffenen. Und wer zwischendurch doch mal eine Pause brauchte, der konnte sich mittels Klick auf eine symbolische Kaffeetasse einfach mal ausklinken oder in einem Chill-Out-Room mit anderen abhängen und sich über Nicht-MS-Themen unterhalten. Die Reaktionen auf den virtuellen Tag waren durchweg positiv, eine Teilnehmerin war begeistert von den einfachen Antworten auf komplexe Fragen, eine andere kommentierte: „Informativ und abwechslungsreich“. Der Aktionstag der AMSEL zeigte einmal mehr: „Du bist nicht allein!“ Ganz im Gegenteil: Hier trifft man andere junge Menschen mit MS mit ähnlichem Schicksal, kann sich austauschen, Mut und Denkanstöße finden.

AMSEL e.V. dankt der AOK Baden-Württemberg, Biogen, Merck, Novartis, PSD L(i)ebenswert, Roche, Sanofi Genzyme und Teva für die freundliche finanzielle Unterstützung bei der Durchführung des Aktionstages.

Redaktion: AMSEL e.V., 07.07.2021