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"Du bist nicht allein"

Sich mit Menschen auszutauschen, die einen ohne viele Erklärungen verstehen, ist eine Wohltat für jeden. Multiple-Sklerose-Erkrankte schätzen diesen Austausch, sind froh, wenn sie einem Außenstehenden nicht erklären müssen, wie sich Fatigue anfühlt und sich keine wohlmeinenden Kommentare anhören müssen. Gleiches gilt für ihre Angehörigen. - Ein Porträt über Astrid und ihre Angehörigen-Gruppe.

Angehörige von Menschen mit Multipler Sklerose stehen oft im Schatten. Sind zwar nicht selbst erkrankt, aber von der Krankheit mitbetroffen. Auch für sie ist das Gefühl, nicht allein zu sein, bereichernd, hat Astrid erfahren. Sie möchte ihre Erfahrung anderen Angehörigen vermitteln und hat deshalb mit Unterstützung der AMSEL eine Angehörigen-Gruppe im Raum Heidelberg gegründet. Im März hat diese ihr einjähriges Bestehen gefeiert.

„Raus aus der Isolation“

Für die Vierundvierzigjährige war es ein befreiendes, beglückendes Aha-Erlebnis, als sie in together per Zufall auf Annetts Geschichte stieß, die seit 2017 die Facebook-Gruppe der AMSEL für Angehörige MS-Erkrankter moderiert. Astrid war beeindruckt.

Noch ein Zufall: Auf einem Seminar für Angehörige wurde sie von der AMSEL angesprochen, ob sie eine Angehörigen-Gruppe gründen wolle. Das war für sie der entscheidende Impuls, in die Aktion zu gehen, denn den persönlichen Kontakt zieht sie dem virtuellen vor.

Ihr Mann Thomas (56) erhielt 2015 die Diagnose MS. Schon zwei Jahre zuvor hatten sich erste Anzeichen mit Taubheitsgefühlen bemerkbar gemacht, die er jedoch ignoriert hatte. Thomas hat die primär progrediente Form der MS (PPMS). Anfangs waren seine Einschränkungen noch nicht so stark, sodass sich das Paar nach dem ersten Verdacht langsam an die Krankheit gewöhnen konnte. Da ihnen keine Hoffnung auf eine erfolgversprechende Behandlung gemacht wurde, haben sich die beiden allmählich mit der Krankheit arrangiert.

"Als kämen wir von einem anderen Planeten"

Die MS wurde zum ständigen Begleiter, "wie ein Rucksack, den man immer auf dem Rücken trägt“, beschreibt die begeisterte Spaziergängerin dieses Gefühl. Bei Familie und Freunden verspürte sie immer einen „Erklärungsnotstand“, vor allem, wenn es um die unsichtbaren Symptome der MS ging. Die Beratungsgespräche mit den Mitarbeitern der AMSEL schätzten beide sehr. Dennoch fühlten sie sich allein, isoliert im Alltag mit der Krankheit, mit einem fremden Lebensgefühl. „Als kämen wir von einem anderen Planeten, wenn sich im Bekanntenkreis mal wieder alles um den nächsten Urlaub drehte“, bringt Astrid dieses Gefühl auf den Punkt.

Der Wendepunkt kam mit der Gründung ihrer Angehörigen-Gruppe. Hier fühlte sich die passionierte Autofahrerin verstanden, und zwar ohne lange Erklärungen. Der direkte Austausch mit anderen Angehörigen vermittelt ihr mehr Leichtigkeit und Lebensfreude. Und sie hat den unschätzbaren Vorteil, dass sie sich selbst etwas Gutes tun und gleichzeitig andere unterstützen kann. Eine Befreiung aus der Isolation und große Befriedigung, die den Zeitaufwand bei weitem aufwiegt.

Haushaltshilfe und Lieferdienst

Die Suche nach Austausch und Anregungen war schon immer ein wichtiges Thema im Leben der geselligen Schwarzwälderin. Die Tochter eines Lehrer-Ehepaares wuchs in sehr ländlicher Gegend als Einzelkind auf, was nicht immer leicht für sie war. Fantasie und Ideen hatte sie mehr als genug: In Kindheit und Jugend wollte sie zuerst Schriftstellerin werden. Dann folgten Sozialarbeiterin, Binnenschifferin und Landwirtin. Alles, bloß nicht Lehrerin, denn die Schattenseiten dieses Berufs hatte sie bei ihren Eltern kennengelernt. Tatsächlich studiert hat sie schließlich Bauingenieurwesen.

Heute arbeitet Astrid Vollzeit als Projektmanagerin in der Automobilzuliefererbranche. Und sie hat doppeltes Glück, denn sie hat flexible Arbeitszeiten bei einem sehr verständnisvollen Arbeitgeber, und selbst beim coronabedingten Arbeiten im Homeoffice mit Rund-um-die-Uhr-Präsenz zu Hause gibt es keinen Streit mit ihrem Ehemann. „Wir können sehr gut miteinander reden“, resümiert sie das Erfolgsrezept für ihre harmonische Ehe.

Die Belastungen durch die Krankheit haben seit der Diagnose zugenommen. Thomas braucht zunehmend Unterstützung im Alltag. Astrid erledigt neben ihrem Job den kompletten Haushalt und ist auch zu Hause Projektmanagerin und Koordinatorin von der Bürokratie über Medikamente herrichten bis zur Terminvereinbarung mit Ärzten und Therapeuten. Für den Lebensunterhalt ist ebenfalls sie zuständig. Seit April hat sie nach zähem Kampf eine Haushaltshilfe – immerhin für wenige Stunden im Monat. „Besser als nichts“, kommentiert die absolute Optimistin. Bei 30 zertifizierten Organisationen hatte sie angefragt, keine hatte Kapazität frei. Bei Nummer 31 hat es dann endlich geklappt. 

Eine große Erleichterung ist auch der Lieferservice eines benachbarten Supermarktes. Astrid bestellt ihren Wochen-Einkauf per Internet und bekommt ihn an die Haustür geliefert, eine bedeutende Zeitersparnis. Den Haushalt erledigt sie häppchenweise, meist schon vor dem Frühstück.

Löwenzahn kann überall blühen

Freude und Bestätigung zog die Hobby-Fotografin bisher aus ihren beruflichen Erfolgen, seit einem guten Jahr auch aus ihrer Selbsthilfegruppe, die sie selbst regelrecht zum Aufblühen gebracht hat. Wie ein Löwenzahn, der unter widrigsten Bedingungen aus einem Gullydeckel herauswächst und trotzdem strahlend gelb leuchtet. So sieht sich die Badenerin, und dieses Bild hat sie für den Flyer ihrer Gruppe gewählt.

Thomas freut ihr Aufblühen sehr. Er hat vollstes Verständnis dafür, dass pflegende Angehörige das Bedürfnis haben, ihre Sorgen unter Gleichbetroffenen zu teilen und sich den ein oder anderen kompetenten Rat für den Alltag zu holen. Er selbst bezeichnet sich als „Grenzgänger“ zwischen den Kontaktgruppen Schwetzingen/ Hockenheim und Heidelberg, deren Treffen er regelmäßig besucht. Auch für ihn ist das Gefühl „Du bist nicht allein“ Balsam für die Seele. Warum sollte es für seine Frau also anders sein? Angehörige, so die beiden, stehen durch die Mehrfachbelastung unter Strom, zeitlich und emotional.

Angehörigengruppe als Aiszeit und Ventil

Da bietet die Angehörigen-Gruppe eine willkommene Auszeit, ein Ventil, einen wichtigen Beitrag zur Selbstfürsorge. Denn, so ist Astrid überzeugt, „wer nicht für sich selbst sorgt, kann auch nicht für andere sorgen“. Und Thomas pflichtet ihr bei: „Vor lauter Pflichtgefühl und Sachzwängen stellen pflegende Angehörige ihre eigenen Bedürfnisse ohnehin immer hintenan. Da sollten die zwei Stunden „Eigenleben“ im Monat mit den Kollegen der Angehörigen-Gruppe auf jeden Fall drin sein.“

Seine vielseitig interessierte Frau hat immer einen Plan B in der Hinterhand. Das kommt ihr nicht nur im Job, sondern auch für ihre Angehörigen-Gruppe zugute. Seit dem Corona-Ausbruch finden die monatlichen Treffen online statt. Eine Agenda gibt es auch jetzt nicht, aber, so Astrids Erfahrung, in der Online-Version ist es vorteilhaft, mit einem konkreten Thema einzusteigen, um die Diskussion anzustoßen. Alles Weitere ergibt sich dann von selbst, und die Unterhaltung beschränkt sich ganz sicher nicht auf die Krankheit und ihre Belastungen. Dafür sorgen aktuelle Themen und die unterschiedlichen Lebensgeschichten in der bunt gemischten Gruppe.

Sobald es die Corona-Situation erlaubt, will die agile Ingenieurin bei Kontaktgruppentreffen für die Gründung weiterer Angehörigen-Gruppen werben. Sehr gerne möchte sie ihr befreiendes Aha-Erlebnis mit anderen teilen, ihnen den Weg raus aus der Isolation und hin zum Aufblühen des Löwenzahns zeigen. Auch neue Mitglieder für ihre eigene Gruppe sind herzlich willkommen.

Quelle: together 04.2020

Redaktion: AMSEL e.V., 12.03.2021