"Arbeit mit Kindern mit Behinderung in Namibia gesucht" – mit dieser Internetsuche begann Lea ihr Abenteuer: zuerst ein halbes Jahr lang Hindernisse überwinden und danach mit die besten sechs Monate ihres Lebens. Die MS-Erkrankte hatte sich in den Kopf gesetzt, ihr Auslandssemester im Bereich Soziale Arbeit in einem afrikanischen Land zu verbringen. Für die heute 25-Jährige ist MS "eine Krankheit, mit der man leben kann". Weshalb also nicht auch sechs Monate in Namibia – das Land gilt als eines der sicheren in Afrika und bietet teilweise gute hygienische Standards. Da es in Namibia nur zwei Einrichtungen für behinderte Kinder in der Altersgruppe bis 3 Jahren gibt, fiel die Wahl nicht schwer. Bereits zwei Tage nach ihrer Bewerbung bekam sie die Zusage der Kindertagesstätte in Swakopmund, einer Wüstenstadt an der Westküste Namibias.
Eigene Wünsche im Mittelpunkt – nicht die Krankheit
Bereits sechs Monate vor der Reise begannen die Planungen: Da Lea sich seit sieben Jahren regelmäßig Interferone spritzen muss und ihr Medikament in Namibia nur sehr schwer und teuer beschaffbar wäre, hat sie im Vorfeld mit ihrem Arzt genau besprochen, wie die Behandlung während dieser langen Zeit sichergestellt werden kann. Viele frustrierende Antworten von Krankenkassen und Ärzten wie "solch einen Fall hatten wir noch nicht" oder "wieso muss eine MS-Kranke nach Afrika reisen?" wollten überwunden werden. "Vielleicht, weil MS-Kranke dasselbe Recht auf Wünsche haben und sich diese erfüllen wollen?", meinte die lebenslustige junge Frau und dachte "jetzt erst recht".
Der KiTa-Träger "CHAIN" half der Studentin bei der Zimmersuche. Um Unterkunft und Verpflegung finanzieren zu können, erkundigte sie sich nach Arbeitsmöglichkeiten in Swakopmund. Die unterschiedlichen Auskünfte der Fluggesellschaft, was den Medikamenten-Transport und die Kühlmöglichkeiten anging, ließen sie bis zum Check-in im Ungewissen, ob sie die Reise tatsächlich antreten kann. Fast gescheitert wäre sie an der vier Zentimeter zu großen Kühltasche für ihre Medikamente, die einzige Kühltasche, die lange genug Kühlung versprach und sie erst nach langwierigen Recherchen gefunden hat. Sie fragte sich mehr als einmal, weshalb es für diese Fälle keine Standardlösung gibt. Viele chronisch Kranke seien schließlich davon betroffen. Doch für sie konnte ihr Auslandssemester jetzt wirklich losgehen.
Der Tagesablauf von Lea in Swakopmund sah wie folgt aus: Einen halben Tag in der KiTa mit den Kindern und Jugendlichen arbeiten, nachmittags Besichtigungstouren in die Umgebung, abends als Bedienung in einem Restaurant jobben. Dort konnte sie auch Einblicke in das Leben der Einheimischen gewinnen, mehr über den Umgang zwischen "Weißen" und "Farbigen" erfahren und sogar neue Freundschaften schließen.
Für zweimal abends jobben im Restaurant konnte sie sich auch den Kurs fürs Skydiven leisten. Das Fallschirmfliegen, zuerst als Tandem, später allein, wurde für sie zu einem aufregenden, bleibenden Erlebnis. Ebenso wie das Sandboarden, bei dem man auf einer Art Snowboard liegend die Sanddünen hinab surft.
Und wenn sie am Strand joggend den Flamingos begegnete, wurde ihr einmal mehr bewusst, "ich habe alles richtig gemacht"!
Eigene Wünsche erfüllen bedeutet Lebensqualität
Der früh erwachsen gewordenen jungen Frau war klar, wenn sie in Namibia einen Schub bekäme, müsste sie sofort nach Deutschland zurück – so war es mit ihrem Arzt besprochen. Sie hatte selbstverständlich die medizinischen Möglichkeiten recherchiert, "doch mit der MS begebe ich mich lieber in vertraute Hände", so die abgeklärte junge Frau: "Selbst wenn ich die Reise abgebrochen hätte, wäre es eine der besten Zeiten meines Lebens gewesen!"
"Sich nicht unterkriegen lassen von Widerständen und Kommentaren anderer Menschen, sondern sich seine Wünsche zu erfüllen – das ist für mich ein Stück Lebensqualität",so Lea. Sie ist für ihre Freunde deshalb auch "die, die es einfach macht." Die Geradlinige und Mutige, ohne dabei unvernünftig zu sein.
Ihre Kraft schöpft Lea denn auch aus dem Zusammenhalt und der engen Bindung zu ihrer Familie und großem Freundeskreis. Ohne die Unterstützung, vor allem durch ihre Mutter, wäre sie nicht nach Afrika gegangen. Neben ihrer Mutter ist auch Leas fünf Jahre ältere Schwester ein Vorbild für sie. Ebenfalls MS erkrankt ist sie ihr eine Gleichgesinnte zum Austausch.
Ihre Freizeit verbringt die reisefreudige Frau mit Freunden, der Familie, mit Büchern und an der frischen Luft.
Die Sonnenliebhaberin sucht viel Bewegung beim Spazieren und Joggen. Dass sie mit 20 nicht mehr in ihrer mit Freunden zusammen gegründeten Fußballmannschaft mitspielen konnte, bedauert sie sehr. Es kribbelt sie dabei immer noch in den Füßen, wenn sie andere Fußball spielen sieht.
Wieso eigentlich (n)ich(t)?!
Die behütet bei Rottenburg aufgewachsene junge Frau stellte als 17-Jährige während ihres Freiwilligen Sozialen Jahres erste MS-Symptome fest. Bereits kurze Zeit später erhielt sie ihre Diagnose. Nach dem ersten Schock wurde aus ihrem anfänglichen "wieso eigentlich ich" ein "wieso eigentlich nicht". Sie ist sich der MS stets bewusst, beschloss jedoch, "ich will glücklich sein". Dementsprechend handelt sie, klagt nicht, sondern macht sich stattdessen Gedanken über die Menschen, die sie liebt. Für ihre Freunde ist sie gern der Halt und Kummerkasten zugleich. "Wenn es den anderen gut geht, geht es mir auch gut", so ihre Haltung.
Bei ihrer eigenen Krankheitsbewältigung half es der Studentin ebenfalls, sich in Selbsthilfegruppen mit anderen Betroffenen auszutauschen. Die positive Lebenseinstellung einer Frau, die ihre Krankheit als Geschenk sieht, da sie ihr dazu verholfen habe, auf ihren Körper zu hören, prägte Lea. Auf sich selbst zu hören, ist für sie seitdem ein sehr guter Ratgeber. An ihrer katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt gründete Lea mit anderen MS-Erkrankten eine eigene Selbsthilfegruppe.
Auf die Frage, wie sie mit Ungewissheit und Zukunftsangst umgehe, meint die Noch-Studentin lakonisch: "Es kann einem sowieso immer etwas passieren. Ich habe eher Angst, etwas zu verpassen, weil ich Angst davor hatte."
Mittlerweile hat Lea ihren Bachelor in Sozialer Arbeit mit Schwerpunkt Gesundheit, Alter und Rehabilitation. In der Zeit in Namibia konnte sie zum einen ihr Wissen mit einbringen, einem behinderten Jungen sogar das Rechnen beibringen, als auch einen großen Erfahrungsschatz mitnehmen. Die Arbeit mit den Kindern fand sie zugleich schön und traurig. Letzteres, da die Freiwilligenarbeit den Kindern keine Kontinuität gibt und in Namibia fast keine Förderung für Behinderte existiert. Behinderungen werden dort eher "versteckt".
In nächster Zukunft möchte sie wieder auf Reisen gehen, einen Job finden, der sie täglich neu motiviert und begeistert, und später eine Familie gründen. Sie kann sich gut vorstellen, beruflich im Bereich Selbsthilfe, auch mit MS-Betroffenen, zu arbeiten, sie zu beraten, ihnen Mut und Hilfe zu geben.
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Redaktion: AMSEL e.V., 02.01.2018