Sandras Leben ist geprägt von Höhen und Tiefen: Da gibt es „Fatigue-Tage“ oft über Wochen und Monate hinweg, an denen an planbares und zuverlässiges Handeln nicht zu denken ist. Zum Glück gibt es jedoch auch „Anti-Fatigue-Tage“, an denen sie Bäume ausreißen oder einen kompletten Marathon laufen kann.
Fatigue oder Funktionieren?
Aufgewachsen ist Sandra in einem kleinen Winzerdorf in der Pfalz, heute lebt sie mit ihrem Freund in Berlin. Obwohl sehr naturverbunden, zog es sie früh in die Großstadt und die „weite Welt“ hinaus. Rückblickend machte sie ihr Abitur 2013 schon unter dem Einfluss der MS, erkämpfte sich mit eisernem Willen einen guten Notenschnitt. Doch es folgte kein Medizinstudium mit langer Facharztausbildung, um Pathologin zu werden. Die immer wieder aufgebrachte Energie war versiegt und so kam es nicht zum langwierigen Kampf um einen Studienplatz für Medizin im Ausland.
Mit einer Sehnerventzündung kurz nach dem Abitur wurde ihre MS samt Fatigue manifest. Die endgültige Diagnose bekam Sandra erst 2016. Da hatte sich die damals 23-Jährige bereits umorientiert, studierte in Bamberg Germanistik, Kunstgeschichte und Soziologie, dann in Mainz Komparatistik. Diese Studiengänge seien mit den häufigen Fatigue-Zuständen eher kompatibel als ein toughes Medizinstudium. Aber, so die gebürtige Pfälzerin, „gefühlt steht mir aufgrund der Fatigue nur die halbe Lebenszeit zur Verfügung. Was mir die Fatigue nimmt, hole ich zwar an „Anti-Fatigue-Tagen“ auf, trotzdem brauche ich für alles einfach länger als andere.“
Sandras produktiver Tag beginnt an schlechten Tagen eigentlich erst um die Mittagszeit, daher wird sie von Freunden auch liebevoll „Eule“ (nachtaktiv) genannt. Denn an „Fatigue-Tagen“ wacht sie steif und mit starken Rücken- und Kopfschmerzen auf, jede Bewegung kostet Überwindung und Kraftanstrengung, aber nur so und mit einer warmen Dusche kann sie in die Gänge kommen. In Zeitlupe und mit Pausen. Aufstehen, Kaffee und Morgenroutine sind eine Prozedur, ja sogar Tortur. Das dauert. Und liefert das K.O.-Kriterium für eine regelmäßige Berufstätigkeit. Ihr aktueller Masterstudiengang in deutscher Literatur soll ihrem Leben Inhalt und Antrieb geben. Am Ende des Tages ist es aber doch auch die Flucht vor einem regulären Job, so ihre nüchterne Analyse.
Lauf! Keine Angst vorm Scheitern
Mit Honorartätigkeiten im Kunst- und Kulturbereich hält sie sich finanziell einigermaßen über Wasser – lektoriert Texte, arbeitet an Dokumentarfilmen mit, macht Katzen-Sitting, manchmal sind es erfinderische und ungewöhnliche Jobs. In ihren kulturellen Interessen ergänzt sie sich hervorragend mit ihrem Freund, mit dem sie je nach Energiekapazitäten in der Berliner Kunst- und Kulturszene unterwegs ist. Die beiden haben einen kleinen Verlag gegründet, der erste Titel geht in Kürze in Druck. Geplant sind auch Lesungen und Events. Verrückte Ideen hat Sanny, wie sie im Freundeskreis auch genannt wird, in Hülle und Fülle. Risiken geht sie bewusst ein, denn eines hat die MS sie gelehrt: Mut und keine Angst vor einem möglichen Scheitern. Einige Freundschaften sind ihrer erzwungenen sozialen Zurückhaltung zum Opfer gefallen, aber „die richtigen Freunde bleiben“, sagt sie.
Die Frage „Warum ich?“ hat sich die Literaturwissenschaftlerin nie gestellt. Ihre erste Reaktion auf die Diagnose: Jetzt erst recht – jede Gelegenheit wurde genutzt, das Leben zu leben. Und: Das Laufen wurde ein wichtiger Lebensbestandteil. Sanny lief nahezu jeden Tag, stellte ihre Ernährung auf ketogen bis vegan um. Ihre Therapie mit einem Basismedikament brach sie wegen starker Nebenwirkungen ab. Jahre später entschied sie sich für eine Eskalationstherapie, die sie nach zwei Jahren aufgab. „Ich war nicht mehr ich selbst, das fühlte sich total falsch an“, sagt sie. Die MS blieb danach erstmal recht ruhig. Erst jüngst wurden neue Läsionen festgestellt, sodass sie sich jetzt neu orientieren musste und eine experimentelle Alternativbehandlung in Erwägung ziehen möchte.
Fatigue als Marathonlauf
Zum „schönsten Erlebnis meines Lebens“, wie sie sagt, kam es 2019 während ihres Auslandssemesters in Griechenland, ihrer geistigen Heimat, dem Land der Eule, dem heiligen Tier der Schutzgöttin Athene: Sie meldete sich spontan zum Athen-Marathon an, einem Marathonlauf von der gleichnamigen Stadt Marathon nach Athen, der als größter Marathon in Südeuropa gilt. Sandra versuchte sich darauf vorzubereiten. Ohne kontinuierliches, strategisches Training ein hoffnungsloses Unterfangen, aber sie wuchs über sich hinaus! Beim Lauf hielt sie permanent Zwiesprache mit ihrer MS, redete ihr zu, war dankbar, dass sie so kooperativ war und ihr dieses wunderbare Erlebnis schenkte – dass sie es gemeinsam schafften.
Den Original-Marathon lief sie noch ein zweites Mal, um sich wieder zu beweisen, „dass trotz der langen Phasen der qualvollen Müdigkeit noch Wunder möglich sind“, denn als Wunder empfindet sie diese Erfahrung, sieht den Marathon als Symbol für das Leben. Dieses Wunder ihrem Umfeld verständlich zu machen, sei extrem schwierig, denn das Leben mit Fatigue sei weit weg von der Lebensrealität gesunder Menschen und für viele kaum nachvollziehbar. Aber immerhin sei die MS dank Austausch in den sozialen Medien und Foren kein Tabuthema mehr.
Fatigue als Verbündete
Ihrer Zukunft mit MS sieht Sandra mit gemischten Gefühlen entgegen, hat sie sich die Fatigue doch zur Verbündeten gemacht, die sie vor Überforderung schützt, versteht das ihr Umfeld weiterhin nicht immer. Ihre Sorge betrifft die berufliche und Vorsorge-Seite: Ein Nine-to-five-Job? Soziale Absicherung im Angestelltenverhältnis? Nicht machbar. Als Künstlerseele auch nicht unbedingt das, was sie glücklich machen würde. Es wird auf eine Selbstständigkeit hinauslaufen, verbunden mit Risiken und Ungewissheit. Mit Studium und gleichzeitiger Selbstständigkeit fällt sie aber aktuell durch alle sozialen Raster, hat keine realistische Chance, Rentenanwartschaften zu erwerben. Beim Thema Inklusion sieht die Wahlberlinerin wichtige Ansatzpunkte für die Politik, und zwar im Interesse aller jungen Menschen mit chronischer Erkrankung oder Einschränkungen. Was sie jungen Neudiagnostizierten mit auf den Weg gebe würde? „Nimm dir Zeit, deinen eigenen Weg zu finden. Such dir einen Neurologen, der dich auch auf alternativen, unkonventionellen Wegen begleitet. Lass dich von nichts und niemandem unter Druck setzen. Denn nicht die MS ist der Feind, sondern der Stress.“
"Fall seven times, stand up eight" - Sandras Lebensmotto und japanisches Sprichwort
Quelle: together, 01.25
Redaktion: AMSEL e.V., 25.06.2025


