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Das Leben beginnt auf der Straße

Die Multiple Sklerose zwang Peter von seiner Harley abzusteigen. Doch die MS konnte ihm weder die Lebensfreude noch die Begeisterung für motorisierte Fahrzeuge nehmen. Heute ist er mit seinem dreirädrigen Roadster auf den Straßen unterwegs. Together 02/16 stellt das Leben des "Trikers" vor.

Wer Peter zum ersten Mal sieht, sieht einen Rocker mit Lederkluft, Tattoos, auffälligem Schmuck. Er strahlt Stärke und Selbstbewusstsein aus, aber gleichzeitig auch Herzlichkeit und Offenheit. Erst auf den zweiten Blick fällt auf, dass er einen Gehstock an seiner Seite hat, ebenfalls in sehr außergewöhnlichem Design. Doch der ist kein modisches Accessoire, sondern ein notwendiger Begleiter. Denn Peter hat seit über 10 Jahren Multiple Sklerose. Die aber war längst kein Grund für ihn, sich von seiner Leidenschaft für Motorräder zu verabschieden.

Es war zwar bitter für ihn von seiner Harley absteigen zu müssen – doch nun ist er mit seinem imposanten dreirädrigen Can-Am Spyder Roadster auf den Straßen unterwegs. "Mein Leben hat sich eigentlich schon immer auf der Straße abgespielt", erzählt der 57-Jährige. Peter kommt aus einfacheren Verhältnissen, ist mit seinen Eltern zusammen in einer 2-Zimmer-Wohnung aufgewachsen. Ein eigenes Zimmer hatte er nicht. "Als Kleinkind habe ich am Fußende des Bettes meiner Eltern geschlafen, später auf der Couch", erinnert er sich. "Daher war ich praktisch nur draußen unterwegs. Schule, Hausaufgaben, raus. Sobald ich vor die Tür gegangen bin, waren da immer all meine Freunde." Als kleiner Junge spielte er mit ihnen Fußball, Indianer oder Verstecken. Doch seine eigentliche Faszination galt von jeher motorisierten Fahrzeugen, vor allem zweirädrigen. "Schon als Kind habe ich sämtliche Auto- und Motorradmarken gekannt. Als ich dann Teenager wurde, kaufte ich mir ein Mofa. Dann ein Moped, ein Motorrad, mit 20 meine erste Harley."

Die Begeisterung für die Maschinen, die Motoren und die Vibration beim Fahren sind das eine. Doch vielmehr noch verbindet Peter mit Motorrädern das Gefühl von Freiheit und Zusammengehörigkeit. Denn über die Jahre hat sich mit anderen Bikern eine echte Gemeinschaft entwickelt, die mehr und mehr gewachsen ist. Sie treffen sich regelmäßig, tauschen sich aus, unternehmen etwas zusammen.

Früher war "Chicken", wie er von seinen Freunden genannt wird, sehr oft auch in den USA unterwegs, Kalifornien, Nevada, Arizona, New Mexico oder Texas. "In der Schule war ich einer der Kleinsten", löst er das Rätsel um seinen Spitznamen auf, "so wurde ich zum "Chicken." Ein Name, der auch auf seiner Lederjacke eingestickt ist. Heute sind die tagelangen Ausflüge und Reisen zu viel für ihn, auch wenn all seine Kumpels aus der Biker-Szene Verständnis zeigen und Rücksicht nehmen. "Sie sagen immer, Chicken, dass Du nicht mehr so kannst, ist kein Problem. Setz Dich in Deinen Rolli und wir schieben Dich".

Krankheit macht erfinderisch

Bei Peter ist vor allem die linke Körperhälfte von der MS gezeichnet. Sie wird zunehmend schwächer, das Gehen fällt schwerer, die Feinmotorik lässt nach. Hier ist Improvisation gefragt. "Die Krankheit macht erfinderisch", sagt Peter neckisch. "Wenn es nicht mehr so funktioniert, musst Du Dir halt Lösungen einfallen lassen." Deshalb kauft er jetzt zum Beispiel nur noch Schuhe zum Reinschlüpfen statt mit Schnürsenkeln, trägt eine Schiene am Bein, die den Fußheber unterstützt, nutzt den Rollstuhl als Hilfsmittel, aber nur, wenn es mit dem Laufen gar nicht gehen will oder hilft sich mit einem praktischen Sockenanzieher. Denn auch Hilfe anzunehmen, wie beispielsweise beim Haushalt, war für ihn ein langwieriger Lernprozess. Doch wenn er mal etwas braucht, sind seine Freunde oder auch seine zwei erwachsenen Söhne für ihn da.

Mit Anfang 40 bemerkte Peter die ersten Anzeichen der MS. "Ich war immer gerne Ski fahren, aber irgendwann fehlte mir die Kraft." Damals schob er es auf sein Alter. Als er einige Jahre später bei einem Wanderurlaub mit der Familie in den Bergen ebenfalls Probleme beim Abstieg hatte, konnte er die Symptome nicht mehr wegreden. "Es war so, als würde ich mit nackten Füßen in einen Ameisenhaufen treten, Kribbeln und keine Kraft mehr. Alle 100 Meter musste ich mich hinsetzen." In der Ferienwohnung angekommen, las er zufällig den Bericht einer Frau, die MS hatte und ähnliche Symptome beschrieb. Aus seinem Verdacht, selbst betroffen zu sein, wurde Gewissheit. Etliche Untersuchungen und Arztbesuche waren allerdings notwendig, bis er 2005 mit 47 Jahren die Diagnose erhielt. "Es folgte gleich darauf eine Reha, da konnte ich noch zwei, drei Kilometer mit Stöcken gehen. Heute geht das nicht mehr."

Die Diagnose traf den Familienvater damals wie ein Schlag ins Gesicht, er zog sich mehr und mehr zurück, versuchte die Krankheit mit sich selbst auszumachen. "So eine Krankheit verändert einen komplett. Ich bin abends 19 Uhr nach der Arbeit ins Bett gefallen. Ich konnte nicht mehr, ich war fertig", sagt er rückblickend und fügt hinzu: "vermutlich war das auch mit ein Grund, warum meine langjährige Ehe schließlich kaputt gegangen ist." Doch Peter kämpft sich aus seinem Tief wieder heraus. Eine Einstellung, mit der er der MS täglich zu begegnen versucht. "Aber was will man auch sonst machen", sagt er leichthin, "abgenommen wird Dir die MS nicht. Ich bin nicht der Typ, der rumjammert oder den Kopf in den Sand steckt. Man muss einfach schauen, was noch geht und das Beste aus der Situation machen. Und wenn es nicht mehr geht, musst Du irgendwie was anderes finden."

Trike als Therapie

Mit dieser beeindruckenden Lebenshaltung kam Peter auch zu seiner Can-Am Spyder, einem eindrucksvollem Trike mit zwei Rädern an der Vorderachse und einem zentralen Hinterrad. Entdeckt hat er es, als er vor einigen Jahren in den Staaten unterwegs war. "Zurück in Deutschland habe ich mich gleich schlau gemacht, wo es hier einen Händler dafür gibt." Harley fahren könnte er möglicherweise noch.

"Aber das ist mir zu unsicher", gesteht er sich ein, "die Vorstellung an einer Ampel zu stehen und von einer über 300 Kilo schweren Maschine platt gemacht zu werden, weil Dir der Fuß wegknickt, ist erschreckend." Und mit dem "Dreirädle", wie er das Trike nennt, unterwegs zu sein, sei unglaublich befreiend und einmalig. "Das hält mich aufrecht. Auf der Maschine zu sitzen und den Wind im Gesicht zu spüren, ist für mich die beste Therapie." Wenn er die Power-Maschine aufgrund der MS nicht mehr fahren könnte, müsste "eben ein extremes Ami-Auto her. Hauptsache mobil bleiben."

Über 32 Jahre lang hat Peter bei einem großen Automobilkonzern gearbeitet. Von der Lackierung, über die Bestandsaufnahme der Außenlager bis hin zu Fuhrpark und Versuch. "Der Job hat mir riesigen Spaß gemacht, ich hatte meinen Sattelzug und durfte immer die neuesten Modelle verladen und verwalten, Prototypen, Crashfahrzeuge", erzählt er stolz. "Ich wollte eigentlich immer arbeiten, solange wie möglich. Doch eines Tages mit Mitte 50 hieß es, es gäbe kein Geschäft mehr für mich, ich solle gehen. Langezeit habe ich darum gekämpft, weiter arbeiten gehen zu dürfen, doch am Ende hatten sie es mit demütigenden Aufgaben geschafft, dass ich den Vertrag zur Frühpensionierung unterschrieben habe."

Diese Umstellung war für den langjährigen Mitarbeiter anfangs schwer, er hatte das Gefühl, dass quasi das letzte Kapitel seines Lebens aufgeschlagen werde. "Wenn man Rentner ist, muss man den Gürtel enger schnallen", weiß der Sindelfinger heute. "Doch mit der Zeit gewöhnt man sich an alles. Jetzt muss ich sagen, war es vielleicht auch gut so, wie es gekommen ist. Der Kopf ist viel freier. Andere gehen arbeiten, ich gehe ins Fitnessstudio."

Traum Wohngemeinschaft

Vor 25 Jahren starb Peters Vater, letztes Jahr verlor er auch seine 94-jährige Mutter. "Sie hatte zum Schluss Pflegestufe 3 und musste in ein Pflegeheim. Ich habe immer nach ihr geschaut, mich um sie gekümmert, ihr alles Nötige gebracht. Nun lebe ich alleine." In einer Drei-Zimmer-Erdgeschosswohnung, direkt am Waldrand mit schöner Terrasse. Aber leider nicht barrierefrei. Sein größter Wunsch wäre es, eine Wohngemeinschaft mit Menschen zu gründen, die ebenfalls MS haben oder hilfebedürftig sind.

"Ich habe schon einige Menschen kennengelernt, die aufgrund der Schwere ihrer Krankheit fast gar nicht mehr rauskommen. Das wäre für mich kein Leben mehr. Mein Traum ist es, genau mit solchen Leuten zusammen zu wohnen. In einer WG hat jeder Raum für sich, wenn er ihn braucht, aber vor allem wäre man nicht allein. Man kann sich gegenseitig helfen und unterstützen, reden, lachen, gemeinsam was unternehmen und das Leben leben. Denn die Straße des Lebens", so Peters Überzeugung "geht immer irgendwie weiter. Sie muss weitergehen."

Quelle: AMSEL-Nachrichtenmagazin "together", Ausgabe 02/16

Redaktion: AMSEL e.V., 30.06.2016