Für Samstag, den 12. Oktober 2024, hatte AMSEL e.V. anlässlich ihres 50-jährigen Jubiläums MS-Erkrankte und Angehörige zum Symposium „Meine Zukunft mit MS“ eingeladen. In der Alten Reithalle im Maritim Hotel Stuttgart nutzten rund 300 Teilnehmer die Gelegenheit, sich zu informieren und auszutauschen. Vier renommierte MS-Expertinnen und -Experten warfen ein Schlaglicht auf aktuelle Entwicklungen in der MS-Forschung und -Therapie. – Hier Teil 1 des Symposiums von Samstagvormittag über MS als Misskommunikation und die Aussicht auf neue Therapien.
Adam Michel fasste in seiner Begrüßung kurz zusammen, wie sich die AMSEL von 1974 bis heute entwickelt hat. Nicht nur die Mitgliederzahlen habe man gestärkt, Beratung eingesetzt und die Arbeit mit den AMSEL-Gruppen vor Ort weiter gepflegt. AMSEL sei im deutschsprachigen Raum die Nummer Eins, was die Angebote auf Facebook und Instagram angehe. Weil man so MS-Betroffene gezielter erreiche, so der AMSEL-Vorsitzende.
Moderator Prof. Dr. med. Peter Flachenecker, Chefarzt des Neurologischen Rehabilitationszentrum Quellenhof, freute sich in seiner Begrüßung über die große Resonanz auf die Jubiläumsveranstaltung: „Wir sind seit Wochen ausgebucht und es freut mich sehr, dass Sie alle sich auf den Weg gemacht haben, um unser spannendes Programm heute zu verfolgen.“
„Multiple Sklerose: Autoimmunität oder eine Serie von Missverständnissen?“
Prof. Dr. med. Burkhard Becher, Leiter des Instituts für Experimentelle Immunologie, Universitätsspital Zürich, referierte über Multiple Sklerose als "Serie von Missverständnissen“. Er stellt die gängige Theorie in Frage, nach der Multiple Sklerose eine klassische Autoimmunerkrankung ist. Autoimmunität beschreibe die Abwehrreaktion des Immunsystems gegen körpereigene, gesunde Zellen. Bei MS sollen T-Zellen das körpereigene Myelin angreifen, jedoch hätte auch nach 50 Jahren MS-Forschung kein spezifisches Autoantigen nachgewiesen werden können, welches diese Reaktion auslöse. Stattdessen könne es sich um eine Fehlkommunikation im Immunsystem handeln, verursacht durch unregulierte Zytokine – Eiweiße, die als „Sprache“ des Immunsystems fungieren, so Becher. Diese Missverständnisse führten möglicherweise zu chronischen Entzündungen, ohne dass es autoreaktive Zellen brauche.
Dysregulierte Zytokine als Auslöser
Eine Studie (Galli, Ingelfinger et al., 2019) hätte gezeigt, dass bei MS-Patienten ein überproduzierendes Zytokin (GM-CSF) im Blut zu finden sei, was das Immunsystem dazu veranlasst, Fresszellen ins Gehirn zu schicken, die dort das Myelin angreifen. Prof. Becher: „Chronisch entzündliche Erkrankungen, wie zum Beispiel die ‚T-Zell-vermittelten‘ Autoimmunerkrankungen sind in erster Linie Misskommunikationskrankheiten. Dysregulierte Zytokine alleine reichen aus, um eine gewebespezifische Entzündung auszulösen.“ Die offene Frage sei: „Können wir das Immunsystem so umpolen, dass wir Reparaturmechanismen im Gehirn anregen können?“ Vor zehn Jahren wäre das noch utopisch gewesen, heute sei er zuversichtlich, dass die Forschung das in Zukunft in den Griff bekomme, so Becher.
Im Anschluss an den Vortrag war Raum für Fragen aus dem Publikum. So machte sich ein Teilnehmer Sorgen: „Wenn die MS eine Misskommunikationskrankheit ist, heißt das, alle T- und B-Zell-Medikamente sind dann falsch?“ Hier konnte Becher beruhigen. Zwar sei bis heute noch nicht nachweisbar, warum die B-Zell-Depletion so gut funktioniere, aber „sie funktioniert sehr gut“.
„Zukünftige Immuntherapien und Behandlungsstrategien“
Im zweiten Vortrag von Prof. Dr. med. Mathias Mäurer, Chefarzt für Neurologie am Klinikum Würzburg-Mitte zu künftigen Immuntherapien unterstrich dieser, dass der MS-Verlauf nach heutigem Stand wie ein Kontinuum verstanden werden müsse und weniger, wie bisher angenommen, als voneinander getrennte Phasen. Es hätte sich gezeigt, dass bei rund 20 Prozent der Patienten trotz effizienter Entzündungsunterdrückung eine schubunabhängige Progression nachweisbar sei (OPERA-Studie).
„Wir brauchen Medikamente, die in der Lage sind, sowohl in der Peripherie als auch zentral Entzündungsreaktionen zu unterdrücken“, so Mäurer. Ein vielversprechender Ansatz seien die BTK-Inhibitoren. Als Kleinmoleküle seien sie in der Lage, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden, um B-Zellen und Fresszellen im ZNS zu modulieren. Hier böte vor allem die Substanz Tolebrutinib Anlass zur Hoffnung, die in der HERCULES-Studie an SPMS-Patienten mit fortgeschrittenem Verlauf eine deutliche Verlangsamung der Progressionsrate erzielte. „Das ist noch keine Lösung für MS, aber ein erster Türöffner“, formulierte Prof. Mäurer.
Effiziente Antikörper und Fokus auf die präklinische Phase
Als weiteres wegweisendes Thema ging Prof. Mäurer auf die effiziente B-Zell-Depletion ein. Es zeige sich, dass Patienten mit hoher Exposition von einem B-Zell-Antikörper die niedrigste Progression aufwiesen. Das impliziere zwei Strategien: entweder die Dosen erhöhen und entsprechende Nebenwirkungen in Kauf nehmen oder die Antikörper effizienter machen. Es brauche Systeme, welche die „Tötungsmechanismen“ gleich an Bord haben – Stichwort CAR-T Zellen. Abschließend erläuterte Prof. Mäurer die Idee, immer früher in das Kontinuum einzugreifen, um späteren Entwicklungen vorzubeugen. So werde inzwischen der Einsatz von moderat wirksamen Medikamenten bereits in der präklinischen Phase beim Radiologisch Isolierten Syndrom (RIS) als sinnvoll erachtet.
Auch bei diesem Thema hatte das Publikum Fragen. Eine Teilnehmerin bezog sich auf die Wirksamkeit von Therapien: „Wir haben viel von den hochwirksamen Therapien gehört – welche Daseinsberechtigung haben denn jetzt noch die Medikamente einer niedrigeren Wirksamkeitstherapie?“. Prof. Mäurer differenzierte in seiner Antwort: „Man muss nicht bei jeder MS gleich die stärksten Medikamente geben. Es gibt auch Verläufe, die sich gut mit den Konzepten der Wirksamkeitskategorien 1 und 2 kontrollieren lassen“. Es sei aber wichtig, engmaschig zu kontrollieren und bei inflammatorischer Verschiebung schnell zu eskalieren.
Markplatz der Möglichkeiten
Flankiert wurde das Symposium von einem „Marktplatz der Möglichkeiten“, auf dem ausgewählte Hilfsmittelhersteller, Vereine, das Neurologische Rehabilitationszentrum Quellenhof und das MS-Register ihre Angebote vorstellten und den Gästen die Möglichkeit boten, diese auszuprobieren. Dieses Forum wurde ausgiebig genutzt – an den Ständen herrschte reges Interesse.
Jubiläumswochenende für Ehrenamtliche, Partner und Wegbegleiter
Das Symposium für MS-Betroffene und Angehörige bildete nur einen Teil des Jubiläumswochenendes. Der Vorabend widmete sich allen Ehrenamtlichen der AMSEL, die mit ihrem wertvollen Einsatz vor Ort das Wort der langjährigen Schirmherrin Ursula Späth „MS-Betroffene stehen im Mittelpunkt allen Handelns“ täglich zur Tat werden lassen. Nach dem Symposium fand ein Festakt statt, bei dem die rund 200 geladenen Gäste in festlichem Rahmen sowohl Rückblicke in die Vergangenheit als auch Ausblicke in die Zukunft der AMSEL erlebten (wir haben berichtet). Berichte über die zwei Symposiums-Vorträge am Nachmittag und den Festabend für Ehrenamtliche folgen.
Das Jubiläumsjahr wird außerdem begleitet von Social-Media-Kampagnen mit Daten und Fakten zur AMSEL und zur MS sowie der Aufklärungskampagne #MeineZukunftmitMS.
AMSEL e.V. dankt Almirall Hermal GmbH, Merck Healthcare Germany GmbH, Mylan Germany GmbH (a Viatris Company), Novartis Pharma GmbH, Roche Pharma AG, Sanofi-Aventis Deutschland GmbH sowie der AOK Baden-Württemberg für die freundliche finanzielle Unterstützung des Symposiums.
Redaktion: AMSEL e.V., 18.10.2024