“Was aber würde geschehen, wenn zum Beispiel ein Mensch ganz ohne Plan oder Möglichkeiten in einem Bett, einer ‘Matratzengruft’ gefangen wäre? Wie würde es einer Gemeinschaft ergehen, wenn ihr bisheriges Oberhaupt, Ratgeber oder ‘Meister’ nach und nach die eigene Orientierung verlieren würde, zunehmend hilflos, offensichtlich selbst verirrt mit Reden, Texten, Fragen um sich werfen würde, wie Kinder Schneebälle an einem ersten Wintertag.”
Ich denke, in der Literatur gibt es viele Schreibszenen, wie du sie hier in deinem Beitrag mit dem Stichwort “Matratzengruft” entwirfst und wie Heine es in “Wie langsam kriechet sie dahin” versucht.
Der Plan oder die Ordnung muss dem Autor (m/w/d) vielleicht nicht mal im Vorhinein bewusst sein, das ergibt sich beim Schreiben. Und wenn der Plan vorher bewusst war, verändert er sich immer während des Schreibens, sonst ist es kein Plan, sondern ein Dogma, so was kann man nicht schreiben und noch weniger lesen.
Ich denke, auch die Schneeballschlacht der Kinder am ersten Wintertag folgt einer Ordnung, auch wenn sie den Kindern nicht bewusst ist.
Als Genre, dem eine verwandte Schreibszene wie in der Matratzengruft zugrunde liegen könnte, fällt mir die weite Welt der Kerkerliteratur ein, Gefängnisliteratur. Der Kerker ist ein Universum für sich, das zugehörige Literaturgenre auch. Gibt’s quer durch alle Jahrhunderte, den Anfang macht vielleicht Francois Villon?
Jüngst erschienen ist Olivier Rolin: Der Meteorologe, das habe ich gerade gelesen und würde es auch dazurechnen, spielt im sowjetischen Gulag.
Oder Christophe Boltanski: Das Versteck, ein viel versprechender Ansatz, ein Debütroman, der zur Zeit der deutschen Besatzung in Paris in einer Wohnung in der Rue de Grenelle spielt, wo der Großvater des Autors sich 20 Monate lang versteckt hielt und ein eigenes Universum von Beziehungen aufbaut, das nun schreibend re- und dekonstruiert wird.
Ich habe es noch nicht gelesen (kommt bald), könnte mir aber auch vorstellen, dass der “Ausblick” nach Draußen, also in die Welt vor der verschlossenen Wohnungstür, eine entscheidende Rolle spielt beim Aufbau des Universums in dieser Kapsel, die die Wohnung ist.
Auch in Rudolf Leonhards großen Traumbuch “In derselben Nacht”, das zur Zeit der Internierung des Autors im Lager Le Vernet spielt, geht es um das politisch bedingte Versteck, das den Blick nach innen zwingt und dort, im Innern, Traumgestalten und -welten entdeckt, die er umfangreich und geradezu obessiv aufzuzeichnen versucht.
Leonhard ist ein aktiver Träumer, er träumt oft mehrmals pro Nacht, daher der Titel “In derselben Nacht”; er konstelliert die Träume mit Wacherlebnissen, Erinnerungen etc. pp.
Auch in Heines “Wie langsam kriechet sie dahin” richtet sich der Blick nach Innen, in das Hirn des Dichters, nicht mehr ins Draußen vor der Wohnung. In einem anderen Heine-Text aus dem Spätwerk ist das allerdings anders, dort beschreibt er das übergroße Glück, das er erlebt, als er aus dem Bett in einen Sessel ans Fenster transferiert wird, nach draußen schauen kann und dort einen Bäckersjungen sieht, der fröhlich pfeifend durch die Straßen eilt. Der Erzähler weint vor Glück, so etwas noch einmal sehen zu dürfen.
Das “Fenster” spielt in dieser Literatur eine große Rolle, so auch bei E.T.A. Hoffmann: “Des Vetters Eckfenster”, da geht es um den kranken Vetter, der seine Berliner Wohnung nicht mehr verlassen kann und im Dialog mit seinem Besucher die urbane Szene beschreibt und kommentiert, die sich vor seinen Augen unten auf dem Marktplatz abspielt.
Fenster gewähren nicht nur den Blick von drinnen nach draußen, auch umgekehrt, man kann auch reingucken. Und auch Augen gelten als Fenster - Fenster zur Seele (zB die kalten Augen der Automaten-Puppe Olimpia in Hoffmanns Erzählung “Der Sandmann”, die sind ja ganz anders als Lottes Augen in Goethes “Werther”).
Den Bogen von Francois Villon ins 20. Jahrhundert spannt der deutsche Expressionist Paul Zech, der Nachdichtungen geschrieben haben, lese ich gerade bei Wikipedia, auch eine interessante Konstellation:
“Zu einer Art deutschem Villon wurde der expressionistische Lyriker, Erzähler und Dramatiker Paul Zech. Dieser veröffentlichte 1931 eine äußerst freie Nachdichtung, die auf den bereits vorhandenen deutschen Villon-Versionen beruhte.” https://de.wikipedia.org/wiki/François_Villon
Das ist so ein spielerischer Versuch, Konstellationen zu entwerfen, meist entschwinden sie ja gleich wieder, das haben sie so an sich wie das Hier und Jetzt. Gut so, sonst könnten ja keine neuen auftauchen.
(Jean Genets Kerkererzählungen fand ich immer furchtbar.)