Wahrnehmung, Gedächtnis & Co.

18.05.05 - Expertenchat mit Herbert König zum Thema 'Wahrnehmung, Gedächtnis & Co.'.

Moderator Patricia Fleischmann: Willkommen, liebe Chatter, an diesem sommerlichen Abend, zu unserem heutigen Chat! Und ein herzliches Willkommen an Herbert König, unseren Experten zum Thema "Wahrnehmung, Gedächtnis & Co."! Der Chat ist eröffnet: Ab jetzt können Sie Ihre Fragen an Herrn König richten.

Gabi: Gibt es bei MS-bedingter Gedächtnisschwäche eher einen Zusammenhang mit dem Kurzzeitgedächtnis oder mit dem Langzeitgedächtnis?

Herbert König: Hallo Gabi, Gedächtnisstörungen sind - nicht nur bei MS - stets sehr individuell, so dass beides, Kurz- und Langzeitgedächtnis betroffen sein können. Aus den bisher vorliegenden Studien ist bekannt, dass für die Gruppe der MS-Erkrankten häufiger Störungen des Abrufs aus dem Langzeitgedächtnis sind.

Gabi: Wie kann ich feststellen, ob meine Gedächtnislücken mit der MS zu tun haben oder ob sie eine andere Ursache haben?

Herbert König: Diese Frage lässt sich, wenn überhaupt, nur im Rahmen einer neuropsychologischen Untersuchung klären.

Gabi: Und die Behandlung wäre die gleiche, unabhängig von der Ursache?

Herbert König: Unabhängig von der Ursache: ja! Ausnahmen sind hierbei medikamentenbedingte Gedächtnisstörungen (hier wäre mit dem behandelnden Arzt zu prüfen, ob eine andere medikamentöse Behandlung möglich ist) oder sogenannte psychogene Gedächtnisstörungen, die eine psychotherapeutische Behandlung erfordern. Die neuropsychologische Behandlung ist aber nicht unabhängig von der Art der Gedächtnisstörung!

Gabi: Ich bin zudem sehr oft müde. Gibt es da einen Zusammenhang? Manchmal kann ich nicht unterscheiden, ob ich nur zu müde bin, mich an etwas zu erinnern oder ob ich mích tatsächlich nicht mehr erinnern kann.

Herbert König: Sie beschreiben einen wichtigen differentialdiagnostischen Zusammenhang. Ein großer Teil der Gedächtnisstörungen ist nämlich sekundär, d. h. Folge von Aufmerksamkeitsstörungen. Dazu kann die Müdigkeit, die übrigens bei MS auch häufig vorkommt, gehören. Das kann dazu führen, dass Sie zu müde sind, um Informationen aufzunehmen (zu lernen). Dann können Sie diese später auch nicht mehr erinnern. Oder der Abruf ist im Moment "blockiert". In diesem Fall würden Sie sich zu einem späteren Zeitpunkt allerdings spontan wieder erinnern.

witti_bln: Mich würde interessieren: Wie wird getestet ob ich Wahrnehmungsstörungen oder Gedächnisprobleme (auf grund von MS) habe? Wie merke ich das, wenn es schleichend auftritt?

Herbert König: Sowohl für Wahrnehmungs- als auch für Gedächtnisstörungen gibt es eine ganze Reihe verschiedener Tests. Diese werden individuell ausgewählt. Wichtige Informationen, die vorab benötigt werden, ergeben sich aus einem ausführlichen Gespräch. Darin werden auch Ihre Beobachtungen im Alltag besprochen. Wenn Störungen schleichend auftreten und sich nur sehr langsam entwickeln, kann es sein, dass Sie sie nicht gleich als solche einordnen und bemerken. Erste Anzeichen können dann die Rückmeldungen und Reaktionen von Angehörigen oder guten Bekannten (auch ArbeitskollegInnen, VereinsfreundInnen etc.) sein.

Gabi: Würden Sie mir empfehlen, einen Neuropsychologen aufzusuchen, und was würde der dann in meinem Fall testen oder fragen, um zum Beispiel den Grad der Beeinträchtigung herauszufinden? Ich war immer schon mal vergesslich, aber nach meinem letzten Schub hat sich das verschlimmert, glaube ich.

Herbert König: Ein Neuropsychologe würde wohl erst einmal ein Gespräch führen, um Ihre Beschwerden genauer kennen zu lernen. Daraufhin würde eine gezielte Untersuchung geplant. Wichtig ist ja die Beobachtung, dass sich Vergesslichkeit nach einem Schub erhöht hat. Ebenso wichtig ist, wie sie sich im weiteren Verlauf entwickelt. Eine/n NeuropsychologIn würde ich dann (auf-)suchen, wenn die Vergesslichkeit im Alltag zur Behinderung wird.

witti_bln: Gibt es Anhaltspunkte, wann es sinnvoll wäre so einen Test zu machen?

Herbert König: Da antworte ich Ihnen wie soeben Gabi: Spätestens dann, wenn die "Störungen" im Alltag zur Behinderung werden, sollte genauer untersucht (und in diesem Rahmen dann auch getestet) werden. Immerhin geht es unter anderem darum, festzustellen, ob Abhilfe möglich ist.

Gabi: Ich bin mir nicht sicher, ob es mich behindert. Eher andere, würde ich sagen. Ich merke es oft erst an der Reaktion meiner Gesprächspartner, weil sie etwas zweimal sagen müssen. Gibt es eine Art Ranking oder einen Fragebogen mit Punkten, nach dem man den Grad feststellen kann?

Herbert König: Das Prinzip psychologischer Tests ist, dass sie 1. standardisiert sind, d. h. jede Person, die den Test bearbeitet, bekommt die gleichen festgelegten Aufgaben unter den gleichen Bedingungen. 2. sind Tests normiert oder geeicht. Das bedeutet, dass das Ergebnis einer einzelnen Person statistisch verglichen wird mit möglichst vielen Vergleichsergebnissen (einer sogenannten Normierungsstichprobe). Dieser Vergleich ergibt immer einen Schweregrad, der jedoch stark davon abhängt, mit welcher Normstichprobe Ihr Ergebnis verglichen wird. Beispiel: Man könnte das Ergebnis mit dem von Personen vergleichen, bei denen eine Gehirnerkrankung ausgeschlossen ist. Dann bekäme man Anhaltspunkte, ob Ihre Gedächtnisleistung altersentsprechend normal oder unterdurchschnittlich ist. Würde man es in Beziehung zu einer Gruppe MS-Erkrankter setzen, bekäme man evtl. den Ausprägungsgrad der Störung.

witti_bln: Was kann man vorbeugend oder unterstützend tun um Wahrnehmung und Gedächnisleistung zu fördern?

Herbert König: MS-bedingte Störungen werden Sie vorbeugend nicht aufhalten können. Wichtig ist jedoch schon, möglichst aktiv am Leben teil zu nehmen, um Störungen zu vermeiden, die durch Verlust von Anregungen entstehen.

witti_bln: Wie sehen denn typische Wahrnehmungsstörungen als Folge der MS aus?

Herbert König: Dazu kenne ich lediglich eine ausführliche Studie. Dort wurde gezeigt, dass am häufigsten Störungen der Farbunterscheidung, der Raumanalyse und der Objekterkennung waren. Ausgeschlossen wurden vorab Sehstörungen im engeren Sinn (Nystagmus, Glaukom, Gesichtsfeldausfälle, Doppelbilder). Allerdings nahmen an der Studie nur 49 PatientInnen teil. Immerhin hatten 25% dieser Gruppe visuell-räumliche Störungen.

witti_bln: Also nur in Bezug auf das Sehen, für Hören oder Riechen wäre doch sowas auch denkbar oder fehlen dafür nur Untersuchungen?

Herbert König: Das ist eine sehr interessante Frage! Ich bin der Meinung, dass hier noch erheblicher Untersuchungsbedarf besteht und im Moment noch die Studien fehlen. Insofern gebe ich Ihnen recht, dass in allen Sinnesmodalitäten Störungen der Informationsverarbeitung auftreten können. Es ist ja auch bezeichnend, dass (soweit ich das überblicke) zu visuell-räumlichen Störungen bei MS bisher nur eine wirklich gute neuropsychologische Arbeit existiert.

Jörg D.: Hallo Herr König. Ich habe große Schwierigkeiten mir Namen und Gesichter zu merken. Beruflich kommt es teilweise zu Merkstörungen, ich wurde versetzt. Da ich eine Berufsunfähigkeitsversicherung habe, möchte gern genau wissen, was bei mir im Gehirn geschädigt ist.

Herbert König: Hallo Jörg D., die Frage, was im Gehirn (an Substanz) geschädigt ist, ist hierbei gar nicht so entscheidend. Wichtiger scheinen mir die Art und das Ausmaß der funktionellen Schädigung. Das kann durch neuropsychologische Untersuchungen festgestellt werden. Im Zusammenhang mit einer BU-Versicherung könnte es zur Begutachtung kommen. Bestehen Sie ggf. auf ein neuropsychologisches Zusatzgutachten.

Jörg D.: was ist ein neuropsychologisches Zusatzgutachten? Warum sollte ich darauf bestehen ?

Herbert König: Sollte es zu einem Gutachtenverfahren kommen, ist bei MS immer zunächst ein Neurologe gefragt. Dieser wird das Hauptgutachten erstellen. Ein Zusatzgutachten klärt weiter gehende Fragen. Wenn Sie Art und Ausmaß von Störungen kognitiver Funktionen (Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Wahrnehmung, Planen, Problemlösen etc.) feststellen lassen möchten, dann erscheint es sinnvoll auch neuropsychologische Untersuchungen, ggf. im Rahmen eines Zusatzgutachtens, durchzuführen.

Moderator Patricia Fleischmann: Hallo Gabi, hallo witti_bln und Jörg D.! Das war's für heute: Der Chat wird in ein paar Minuten geschlossen: Ich möchte nur noch eben darauf hinweisen, dass Frau Plohmann auf dem 3. Aktionstag der Jungen Initiativen das Thema kognitive Schwierigkeiten erörtert. Auch die Müdigkeit wurde heute kurz angesprochen: Dazu wird auf dem Aktionstag eine neue Broschüre vorgestellt werden. Zur Wahrnehmung gibt es ebenfalls Broschüren, die Sie gerne bei der AMSEL anfordern können.

Moderator Patricia Fleischmann: Ich wünsche allen noch einen schönen Abend und bedanke mich ganz herzlich bei Herbert König, dass er sich für uns Zeit genommen hat. - Bis zum nächsten Chat!

Näheres zum Aktionstag am 2. und 3. Juli erfahren Sie unter www.junge-initiativen.de!

18.05.2004

Redaktion: AMSEL e.V., 25.09.2006