Schwangerschaft und MS

02.03.05 - Betaferone möglichst vorher absetzen, rät Dr. Martin Rösener Vätern mit Kinderwunsch im AMSEL-EpertenChat.

Moderator Jutta Hirscher: Guten Abend, liebe Chatter, und herzlich willkommen zu unserem virtuellen Gespräch mit dem heutigen Experten, Dr. Martin Rösener. Auch Ihnen, einen schönen guten Abend, lieber Herr Dr. Rösener. Der Chat ist geöffnet und wir sind gespannt auf Ihre Fragen.

Franki: Hallo Herr Dr. Rösener, meine Frau und ich wünschen uns ein zweites Kind. Seit drei Wochn spritze ich mir Avonex, das Frauen laut Rezeptbeschreibung bei gewollter Schwangerschaft absetzen sollen. Gibt es hierfür auch Erfahrungswerte für den Mann ?

Dr. Martin Rösener: Die Erfahrungen für Väter mit Multipler Sklerose sind begrenzt, es gibt keine unabhängigen Studien zu der Frage ob die Betainterferone die Spermien schädigen und es so möglicherweise zu einer Schädigung des Kindes kommt. Man ist deshalb auf die Empfehlungen der Herstellerfirmen angewiesen. Diese empfehlen die Medikamente 6 - 8 Wochen vor der Zeugung abzusetzen um jedes Risiko für das Kind auszuschließen.

Franki: Muss ich es auch absetzen bei Kinderwunsch ? Gibt es irgendwelche Nebenwirkungen wie Zeugungsunfähigkeit ?

Dr. Martin Rösener: Hinweise für eine reduzierte Zeugungsfähigkeit von Männern gibt es für Betainterferone wie Avonex nicht.

Kerstin: Hallo, bin 36 Jahre, habe seit 14 Jahren MS. Therapie erst mit Imurek, dann ebif, dann Mitoxantron und jetzt nach 6 Monaten Pause wieder Rebif. Ich merke zur Zeit Verschlechterung: Gehstrecke, Gleichgewicht... Trotzdem kommt der Kinderwunsch. Ich weiß nicht, ob dies in meinem Alter (und so langer Diagnose) realistisch und verantwortungsbewusst ist. Gibt es Erfahrungen von MS-Kranken, die so spät Kinder bekommen. Können Sie mir einen Rat oder eine Einschätzung des Verlaufs geben ?

Dr. Martin Rösener: Nach so langer immunsuppressiver Therapie (Imurek, Mitoxantron) ist die Fruchtbarkeit auf jeden Fall reduziert. Dies ist bekannt und darüber wird immer vorher aufgeklärt. Insofern ist es möglich, daß Sie kein Kind bekommen können. Ob Sie es dennoch versuchen sollten, hängt in erster Linie von Ihren neurologischen Störungen ab. Eine Schwangerschaft ist für jede Frau eine große Belastung und das Aufziehen von Kindern überfordert auch viele scheinbar Gesunde. Es ist in jedem Fall eine sehr individuelle Entscheidung, die Sie nicht nur mit Ihrem Mann, sondern auch mit Ihrem Neurologen und dem gesamten sozialen Umfeld besprechen sollten.

Sanne: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass mein Kind auch MS bekommt ? Und gibt es Probleme bei der Geburt ?

Dr. Martin Rösener: Die Multiple Sklerose ist keine Erbkrankheit im eigentlichen Sinne, vererbt wird eine Konstellation von Gewebemerkmalen, die das Auftreten der Multiplen Sklerose begünstigen oder unwahrscheinlicher machen. Je nach Verwandschaftsgrad steigt das Risiko, ist aber dennoch insgesamt gering, sodaß es keine Empfehlung gibt, mit Multipler Sklerose keine Kinder zu bekommen. Nach verschiedenen Untersuchungen beträgt das Risiko in der Normalbevölkerung an Multipler Sklerose zu erkranken etwa 0,1 %. Für Kinder einer Mutter mit Multipler Sklerose beträgt das Risiko etwa 2 %.

Bernd: Hallo Herr Dr. Rösener, sollte ich vor einer Mitoxantrontherapie Copaxone probieren? Mein MS-Verlauf ist über ca. 16 Jahre gesehen sehr schleichend. Vor ca. 9 Jahren gehen mit einem Stock, seit ca. 5 Jahren mit 2 Stöcken.

Dr. Martin Rösener: Mitoxantron ist ein immunsuppressives Chemotherapeutikum, welches nach den Empfehlungen der DMSG heute in der Eskalationstherapie verwendet wird. D. h. Mitoxantron wird dann angewendet, wenn andere Immunmodulatoren (Betainterferone, Copaxone) nicht, oder nicht mehr wirksam sind. Als Mittel der ersten Wahl kommt es nur in Einzelfällen zum Einsatz. Für den schleichenden Verlauf der Multiplen Sklerose (primär oder sekundär) ist Copaxone nach allen Erkenntnissen nicht richtig wirksam und in Deutschland auch nicht zugelassen.

Kerstin: Hallo Herr Dr. Rösener, gibt es Erfahrungen von MS-Kranken, die so spät (mit 36) Kinder bekommen ?

Dr. Martin Rösener: Ja, die gibt es. Die Patientinnen, die ich allerdings durch eine Schwangerschaft begleitet habe, waren bisher alle jünger. Nochmals, es hängt im Wesentlichen an den neurologischen Symptomen, ob man das wagen sollte. Es bleibt eine Einzelfallentscheidung, die Sie mit allen in Ihrem Umfeld und sicher auch mit Ihrem Neurologen besprechen sollten.

Kerstin: Können Sie mir einen Rat oder eine Einschätzung des Verlaufs mit / nach Schwangerschaft geben ?

Dr. Martin Rösener: Insgesamt ist der Einfluß der Schwangerschaft auf die Erkrankung neutral. Während der Schwangerschaft, und insbesondere in den letzten zwei Dritteln ist die Zahl der Schübe geringer als vor der Schwangerschaft, nach der Geburt ist die Zahl der Schübe erhöht. Um die Schubhäufung nach der Geburt zu vermeiden könnte man auf das Stillen verzichten und direkt mit einer immunmodulatorischen Therapie (Betainterferone) beginnen.

Sanne: Welchen Einfluss hat eine Schwangerschaft auf den Verlauf der MS ?

Dr. Martin Rösener: Wie ich gerade geschrieben habe, insgesamt gibt es weder einen positiven noch einen negativen Effekt auf die Multiple Sklerose durch eine Schwangerschaft.

Sanne: Stillen und immunmodulatorische Therapie schließen einander aus ?

Dr. Martin Rösener: Ja. Die gängigen und zugelassenen immunmodulatorischen Therapien (Betainterferone, Copaxone) können in die Muttermilch gelangen und bekommen dem kleinen Kind wahrscheinlich nicht. Stillen unter immunmodulatorischer Therapie ist deswegen ausdrücklich nicht empfohlen.

Sue: Habe bisher geringe Beeinträchtigungen, aber wie sieht es aus mit Stress bei der Geburt ? Ist ein Kaiserschnitt bei MS besser ?

Dr. Martin Rösener: Das Vorgehen bei der Geburt sollte sich ausschließlich nach den geburtshilflichen Erfordernissen richten, das geburtshilfliche Verfahren hat keinen nachteiligen Effekt auf die Multiple Sklerose der Mutter. Dies ist in einer Untersuchung mit mehr als 200 Müttern mit Multipler Sklerose nachgewiesen worden. Insbesondere auch die Periduralanästhesie (PDA) kann bei Patientinnen mit Multipler Sklerose angewendet werden. Ein Kaiserschnitt hat nach dem gegenwärtigem Kenntnisstand keinen Vorteil bei Patientinnen mit Multipler Sklerose. Streß sollte man durch gute Vorbereitung auf die Geburt und eine angenehme und vertrauensvolle Atmosphäre während der Geburt vermeiden.

Sue: Ist eine Rückenmarksanästhesie möglich ?

Dr. Martin Rösener: Wahrscheinlich meinen Sie eine Periduralanästhesie (PDA). Dabei wird nach Lokalanästhetikum in die Umgebung des Duralsacks injiziert und so Schmerzfreiheit für die daruntergelegenen Teile des Körpers erreicht. Diese Anästhesie ist, wie ich gerade schon geschrieben habe, auch bei Patientinnen mit Multipler Sklerose gut möglich.

Sanne: Das heißt auf jeden Fall eine entweder-oder-Entscheidung ? Wenn ich stille, gibts keine Therapie, wenn es Therapie gibt, dann kein Stillen ?

Dr. Martin Rösener: Nein, so absolut ist das nicht. Einige meiner Patientinnen haben folgenden Mittelweg gewählt: Nach der Geburt wurde mit dem Stillen begonnen. Wenn ein Schub auftrat, wurde abgestillt, Kortison infundiert und dann mit der immunmodulatorischen Therapie begonnen. So geht das auch und im Einzelfall kann ja auch mal in der Stillzeit gar kein Schub auftreten.

Sanne: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit eines Schubes nach Schwangerschaft?

Dr. Martin Rösener: Für den Einzelfall läßt sich das nicht sagen. Wenn man viele Patientinnen mit Multipler Sklerose und Schwangerschaft beobachtet, kann man feststellen, daß die Schubrate im Durchschnitt vor der Schwangerschaft ca. 0,7 Schübe/Jahr, im letzten Drittel der Schwangerschaft 0,2 Schübe/Jahr und in den ersten drei Monaten nach der Geburt 1,2 Schübe/Jahr beträgt. Daraus können Sie sehen, daß nach der Geburt vorübergehend durchschnittlich etwas mehr Schübe auftreten, für den Einzelfall kann man daraus aber keine Wahrscheinlichkeit ableiten.

Sue: Gibt es irgendwelche Vitamine oder ähnliches, das förderlich bei schwangeren MS-Kranken ist?

Dr. Martin Rösener: Wenn Sie sich vernünftig und gesund ernähren benötigen Sie hier in Mitteleuropa keine Nahrungsergänzung wie Vitamine oder Spurenelemente. Dabei ist es egal, ob Sie schwanger sind oder nicht. Eine ausgewogene Mischkost enthält all das, was wir so brauchen an Vitaminen.

Sue: Ich habe mal gelesen, dass besonders die Rückenmarksanästhesie mit MS-Schüben in Verbindung gebracht wird. Ist das veraltet?

Dr. Martin Rösener: Tatsächlich hat man früher geglaubt, daß eine Schwangerschaft für die Patientinnen mit Multipler Sklerose ungünstig sei, weil man immer nur die Schübe nach der Geburt beachtet hat und nicht wußte, daß während des Schwangerschaft viel weniger Schübe auftreten und so der Effekt insgesamt neutral ist. Man hat dann geglaubt, daß eine der Ursachen der Schubhäufung nach der Schwangerschaft die geburthilflichen Maßnahmen, insbesondere die Periduralanästhesie, sind. Dies hat sich aber nach einer Untersuchung an über 200 Schwangerschaften bei Patientinnen mit Multipler Sklerose eindeutig als falsch herausgestellt. Das geburtshilfliche Verfahren hat keine Einfluß auf die Schubraten nach der Geburt. Wer die Studie mal im Original lesen will, hier ist die Quellenangabe: NEJM 1998; 339: 285-291.

Marion: Hallo Herr Dr. Rösener, nehme seit drei Jahren Interferon. Wenn ich es absetze, um schwanger zu werden und in der Zeit einen Schub bekomme, was dann?

Dr. Martin Rösener: Man würde dann das machen, was sonst auch bei einem Schub gemacht würde, eine hochdosierte, intravenöse Therapie mit Kortison um die Schubsymptome zur Rückbildung zu bringen. Dann sollten Sie schnell schwanger werden, weil Sie ja während der Schwangerschaft vor Schüben relativ geschützt sind. Wenn allerdings immer wieder Schübe auftreten und sich der Eintritt der Schwangerschaft hinauszögert, könnte ggf. die immunmodulatorische Therapie wiederaufgenommen und die Erfüllung des Kinderwunsches auf eine ruhigere Krankheitsphase verschoben werden.

Sue: Danke, aber was ist NEJM?

Dr. Martin Rösener: Entschuldigung, das NEJM ist das New England Journal of Medicine, eine der weltweit angesehensten medizinischen Fachzeitschriften.

Marion: Was verstehen Sie unter einer ruhigeren Phase?

Dr. Martin Rösener: Eine ruhigere Phase ist dann erreicht, wenn nicht mehr so viele oder über einige Zeit gar keine Schübe mehr auftreten.

Marion: Wieviel sind "nicht mehr so viele Schübe"?

Dr. Martin Rösener: Sie wollen es heute ganz genau wissen. Wie alles was hier heute abend besprochen wird hängt auch das vom Einzelfall ab. Als nicht ruhig bezeichne ich eine Phase in der zwei oder mehr Schübe pro Jahr auftreten. Ruhig ist es wenn nur einer oder keiner in einem Jahr auftritt. Mit Schüben meine ich in diesem Fall nur solche, die eine hochdosierte intravenöse Kortisontherapie rechtfertigen würden. Ich hoffe, jetzt war ich präzise genug. Wenn nicht, fragen Sie ruhig noch einmal nach.

Marion: Was passiert, wenn ich schwanger bin und einen schweren Schub haben sollte?

Dr. Martin Rösener: Kortison ist ein in unserem Körper auch natürlich vorkommendes Hormon, auch das ungeborene Kind produziert es bereits. In besonderen Situationen kann man es auch während der Schwangerschaft geben. In den ersten 3 Monaten der Schwangerschaft ist man mit jedem Medikament besonders zurückhaltend, weil in dieser Zeit die Organe der Kindes gebildet werden, danach kann man es aber ohne große Risiken für das Kind einsetzen, wenn es die Mutter braucht. Also, man würde im Einzelfall auch in der Schwangerschaft eine hochdosierte, intravenöse Kortisontherapie geben. Ich habe das selbst schon mit der erforderlichen Vorsicht bei schwangeren Patientinnen gemacht, die Kinder sind alle ganz gesund auf die Welt gekommen.

Marion: Danke für Ihre Antworten, und einen schönen Abend noch.

Dr. Martin Rösener: Vielen Dank auch für Ihre Fragen, nur dadurch kommen hier alle weiter.

Moderator Jutta Hirscher: Liebe Chatter, der Chat wird nun geschlossen. Vielen Dank für Ihr Interesse und vielleicht beim nächsten Chat am 15. März. Einen herzlichen Dank auch an unseren heutigenExperten und Ihnen allen noch einen schönen Abend.

Redaktion: AMSEL e.V., 02.03.2005