Reha und Training bei MS

Eine Orthese sollte man bei intensiveren Belastungen lieber anlassen, um sich zu schützen, so Dr. Gerald Lehrieder im AMSEL-Expertenchat.

Patricia Fleischmann: Liebe Chat-Teilnehmer, willkommen hier im Expertenchat der AMSEL👋 Ab 19 Uhr antwortet Dr. Gerald Lehrieder auf all Ihre Fragen rund um die Rehabilitation der Multiplen Sklerose und Training mit bzw. trotz MS. - Gern dürfen Sie schon drauflosfragen; die Antworten kommen dann ab 19 Uhr.

Ida: Hallo Hr. Dr. Lehrieder, ich machte letztes Jahr eine Reha, die leider keinen Erfolg brachte. Wenige Therapien. Jetzt riet mir der Neurologe zur MS Akutklinik. Bekomme ich denn dort mehr Therapien die mich wieder halbwegs fit machen? Was wird denn dort besser gemacht? Können Sie Kliniken empfehlen?
Dr. Gerald Lehrieder: Hallo Ida, danke, dass Sie den Anfang machen. Im vergangenen Jahr waren die Kliniken halt pandemie-bedingt eingeschränkt in ihren therapeutischen Angeboten. Das spielte sicherlich eine Rolle. Mit der Akutklinik bin ich mir nicht so sicher, ob Sie da was die Therapiedichte und die diversen Angebote anbetrifft, wirklich richtig aufgehoben sind. Möglicherweise meinte der Neurologe, dass Sie vielleicht nochmals untersucht werden, ob es andere Gründe gesundheitlicher Art gab oder gibt, dass Sie nicht so profitieren konnten. Evtl. ergäbe sich nach einem Akutaufenthalt die Chance, nochmals eine Anschlußheilbehandlung zu initiieren. Und dann sollten Sie eine Klinik wählen, die von der DMSG oder der Amsel empfohlen wird. Auf der Homepage der Selbsthilfe finden Sie da entsprechende Listen.

Dr. med. Gerald Lehrieder

  • Chefarzt der Neurologie, Helios Kliniken, Gotha
  • Zusatzbezeichnungen für Sozialmedizin und Verkehrsmedizin
  • Fachkundenachweis im Strahlenschutz und der Transfusionsmedizin
  • Spezialist auch auf dem Gebiet der Multiplen Sklerose
  • vielfach als Experte im Multiple-Sklerose-Chat der AMSEL

Claudia: Hallo, ich hatte im Januar/Februar eine REHA. Es war das erste Mal, und ich hatte viele verschiedene Therapien. Vielleicht war es günstig, das zu dieser Zeit nicht ganz so viele Patienten in der Reha-Klinik waren. der Erfolg war auf jeden Fall da, ich war doch danach viel fitter (bis ich leider nach 1 Woche zu Hause auf den Kopf gestürzt bin).
Dr. Gerald Lehrieder: Ich danke Ihnen sehr für dieses starke Plädoyer für die Reha. Das wird den anderen Teilnehmern unseres Chats heute auch Ansporn geben. Hoffentlich haben Sie sich bei dem Sturz nicht zu heftig verletzt und können jetzt mit dem alten Eifer weitermachen.

sofia: Was können Sie empfehlen zur Motivation? Ich bin nach einem anstrengenden Arbeitstag im Büro meistens zu erschöpft für Training, weiß aber, es würde mir gut tun.
Dr. Gerald Lehrieder: Den inneren Schweinehund dann zu überwinden ist immer schwer. Oft helfen Verabredungen: gemeinsam mit einer Gruppe walken gehen, schafft auch Verbindlichkeit und man gibt der Anziehungskraft der Couch nicht so schnell nach. Aber vielleicht können Sie an solchen Tagen auch das Pensum reduzieren, die Intensität etwas zurückfahren. Und oft merkt man dann, dass es plötzlich doch gegangen ist. Und das macht Sie zurecht stolz und motiviert fürs nächste Mal.

mira: Bürotag / kognitiv ist bei mir nicht das Problem, doch mit meiner eingeschränkten Gehfähigkeit max. 15 Minuten inzw. auch mit Rollator, damit ich nicht wieder stürze, wenn mein Fussheber versagt. Dann bin ich erschöpft und komme immer an denselben Punkt, dass es nicht weitergeht. Wie soll ich da trainieren, der Frust ist vorprogramiert bei mir.
Dr. Gerald Lehrieder: Hallo Mira, vielleicht finden Sie eine andere Betätigung, die Sie herausfordert. Auf einem Standfahrrad strampeln, vielleicht ins Wasser, wenn Ihnen das besser gefällt. Alles was Ihnen gelingt ist ok.

Patricia Fleischmann: Welche Sportart ist die richtige für mich? Lassen Sie sich doch von der AMSEL-Seite "Multiple Sklerose und Sport" inspirieren. Hier werden sehr viele Möglichkeiten vorgestellt, für fitte und weniger fitte, für weniger und stärker eingeschränkte Menschen mit MS. Und die Funktionen genannt, die mit der jeweiligen Sportart trainiert werden können sowie empfohlen, wie man sich verhalten sollte, um etwa Verletzungen zu vermeiden.

Rower: Hallo Herr Dr. Lehrieder,
ich musste mich aufgrund der MS sportlich neu orientieren. War dann eine Weile auf der Suche, was alternativ geht und habe dann angefangen zu Rudern. Habe ein Ruderergometer zu Hause und in den Sommermonaten geht's aufs Wasser. Das läuft super. Ich kann da sowohl auf Ausdauer trainieren als auch intensivere Belastungen fahren, wenn ich mich gut und langsam aufgewärmt habe. Meine Frage: Ich habe für das rechte Bein eine dynamische Unterschenkelorthese, da ich bei längeren Laufstrecken/Belastungen anfange zu stolpern bzw. sich der rechte Fuß nach innen verdreht. Kürzere Strecken/Belastungen gehen auch so. Wenn es nach mir ginge, würde ich die Orthese mittlerweile dauerhaft tragen, also im Alltag wie beim Sport. Ich komme damit sehr gut zurecht und mein rechtes Bein ermüdet nach meinem Empfinden weniger schnell, ich laufe insgesamt "runder", der Fuß verdreht sich weniger. Nun habe ich in der Therapie zwei unterschiedliche Meinungen der Therapeuten dazu: In der Ergo heißt es: Ja, klar, immer tragen. In der Physio aber, eher auch mal weglassen, damit sich die Muskeln nicht zu sehr "ausruhen" mit der Orthese. Mir erschließt sich das nicht so ganz, da ich mir denke, mit Orthese geht einfach mehr und auch länger, bevor das Bein schlapp macht, ich muss mich weniger darauf konzentrieren, was das rechte Bein macht. Was meinen Sie dazu? Wäre es wirklich kontraproduktiv für die Muskulatur, die Orthese dauerhaft zu tragen?
Vielen Dank für Ihre Antwort!
Dr. Gerald Lehrieder: Wenn Sie ohne Orthese Gefahr laufen zu stürzen, insbesondere wenn Sie mal intensivere Belastungen machen, sollten Sie sicherlich die Orthese tragen. Würde Ihnen aber gerade beim "normalen" Gehen, wenn Sie sich dabei auch ein bisschen aufs korrekte Laufen achten können, schon zum Weglassen raten. Auch damit Sie sich grade bei einer Ermüdung nicht einen Laufstil angewöhnen, der den Gelenken schadet oder zu Ausweichbewegungen einlädt.

Ida: Wie kann ich denn mein Gangbild verbessern? Sitze zum größten Teil im Rolli, da möchte ich wieder raus. Die Beine sind steif, Medikamente alle durch und die Kortisongabe ins Rückenmark brachte keinen Erfolg, nur einen Krankenhausaufenthalt zwecks Blutpflaster :(
Deshalb die Reha, manche Patienten hatten viele Therapien und manche eben wenige. Ist das öfter so in Kliniken?
Dr. Gerald Lehrieder: Die Rehabilitation versucht natürlich, die Therapien in Menge und Belastung immer auf die Belastbarkeit der Rehabilitanden anzupassen. Wenn sich dann Fortschritte einstellen, kann man das steigern. Dafür sprechen sich Ärzt:innen mit den Therapeut:innen ja in regelmäßigen Teamgesprächen ab und sollten eigentlich das Programm dann modifizieren, wenn der Patient über- oder unterfordert ist.

mira2: Danke Ihnen, dürfen Neurologen KG an Geräte auch verordnen?
Dr. Gerald Lehrieder: Ja, das geht schon. Da ich im Krankenhaus arbeite, weiß ich gar nicht so genau, wie die Verordnung korrekt heißt. Ich glaube "gerätegestützte Physiotherapie", fragen Sie einfach Ihren Neurologen.

mira2: Die Orthese ist im Prinzip bei mir der Rollator. Doch ich soll auch ohne Rollator kürzer konzentiert gehen, damit ich das Laufen nicht verlerne.
Dr. Gerald Lehrieder: Konzentriert sicher gehen ist ok. Aber um jeden Preis, also unter Inkaufnahme eines Sturzrisikos auf den Rollator zu verzichten, bitte nicht. Der Preis wäre dann zu hoch.

mira2: noch eine Frage: wie lange soll/kann ich dann z.B. am Standfahrrad trainieren? Bis es an der absoluten Grenze ist und ich mit dem Treten keine Kraft mehr habe und gerade noch absteigen kann oder vorher lieber aufhören?
Dr. Gerald Lehrieder: Auf jeden Fall nicht ÜBER die Grenze gehen. Tasten Sie sich an Ihre Grenze heran, Sie werden es spüren, wenn es genug ist. Eine Basisregel ist vielleicht: Wenn Sie nach einer Stunde nicht wieder gut regeneriert sind, haben Sie es vor lauter Spaß an der Bewegung übertrieben.

sofia: Danke für Ihre Tips. Früher ging das noch mit der Motivation. Jetzt ist die Fatigue ist so stark, dass ich abends fast immer 1 bis 2 h schlafe, auch danach nicht mehr rausgehe. Das ist jetzt seit dem letzten Schub vor 1 Jhar. Mein Neurologe hat eine Teilrente vorgeschlagen. Ich bin unsicher, weil ich noch meinen Job erledigen kann und mit Vollzeit mehr verdiene. Andererseits möchte ich auch wieder einen Feierabend gemießen können, aktiver sein als jetzt.
Dr. Gerald Lehrieder: Das ist ja ein ganz schwieriges Dilemma. Die körperliche Aktivität hilft zwar etwas zur Linderung der Fatigue, aber bringt sie leider nicht gänzlich weg. Haben Sie es schon mal mit veränderten Zeiten probiert? Kleines Zeitfenster in einer Mittagspause vielleicht? Und an arbeitsfreien Tagen vielleicht etwas mehr Zeit für Aktivität nehmen.

Moni: Kann man pauschal empfehlen wie oft und wie lange das Training an Geräten für den Muskelerhalt bzw -aufbau zu empfehlen ist um die Gehfähigkeit zu erhalten bzw zu stabilisieren?
Dr. Gerald Lehrieder: Hallo Moni, das ist wirklich eine sehr individuelle Frage. Eine Pauschalantwort gibt es da nicht. Wenn Sie gerne in ein Fitness-Studio gehen, dann suchen Sie sich eines aus, in dem Sie einen Sporttherapeuten finden, der Ihnen einen guten Plan erstellt, der Ihnen aber auch die Flexibilität lässt, damit Sie auch auf die Schwankungen reagieren können, die die MS ja auch mit sich bringt. Ist ja nicht jeder Tag gleich.

Moni: Was halten Sie eigentlich vom Training mit der Galileo Rüttelplatte? Gibt es da Vorschläge zur Häufigkeit und Frequenzhöhe? Danke
Dr. Gerald Lehrieder: Auch das ist nicht so einfach pauschal zu sagen. "Rüttelplatte" hab ich auch immer dazu gesagt. Ich persönlich halte es für eine gute Ergänzung, insbesondere auch wenn es um die rumpfstabilisierende Muskulatur geht. Aber da sollten Sie sich auch an Ihr richtiges Pensum und die Einstellungen herantasten und da brauchen Sie Anleitung.

mira: Ich habe mir so einen Vibroshaper Rüttelplatte gekauft und kann es nur empfehlen, wenn der Körper versteift ist und es einen auflockert.
Dr. Gerald Lehrieder: Sehr guter Hinweis, danke dafür. Die "Rüttelplatte" wirkt in der Tat nicht nur rumpfstabilisierend, sondern auch lockernd.

Manfred: Guten Abend, ich pflege meine Frau (seit über 40 Jahren MS). Die Therapeutin kommt zwei Mal in der Woche, sie ist beinahe täglich im Stehtrainer. Es funktionieren noch die linke Hand mit Einschränkungen in der Feinmotorik, teils der linke Arm, je nachdem, wie stark die Spastik ist. An guten Tagen kann sie in einer Zeitschrift blättern. Die Therapeutin hat uns einige Übungen gezeigt, die sie allein oder mit mir machen kann. Geistig ist meine Frau sehr fit.
Uns würde interessieren, welche Übungen sie ähnlich stark eingeschränkten Menschen empfehlen, um die gebliebenen Funktionen möglichst zu erhalten. Und als zweite Frage: Würden sie auch stilles Qigong empfehlen? Kann man davon überhaupt einen Nutzen ertwarten?
Dr. Gerald Lehrieder: Guten Abend Manfred, zu QiGong würde ich mich gerne zurückhalten. Da versteh ich zu wenig davon, um hier über Erwartungen zu reden oder gar Empfehlungen bei schwierigen Ausgangssituationen zu geben.
Sicherlich ist die funktionelle Therapie für die oberen Extremitäten der wesentliche Baustein. Was aber auch an den Armen einen guten Effekt bringen kann, ist das Motomed-Training. Kann passiv betrieben oder auch aktiv betrieben werden, je nach Befund, das kann ich jetzt nicht abschätzen. Da gibt es auch kombinierte Geräte, mit denen man einerseits die Beine (auch passiv) bewegen kann, z.B. zur Spastiklinderung, und aktive Trainingsmöglichkeiten an den Armen. Und das stereotyp wirkende "Kurbeltraining" kann auch funktionelle Fortschritte anbahnen.

Patricia Fleischmann: Liebe Chatter, haben Sie vielen Dank für Ihre Fragen hier im Multiple Sklerose-Chat der AMSEL! Ein besonders großes DANKE geht an Dr. Gerald Lehrieder für sein Engagement heute Abend! Ihnen allen noch einen schönen restlichen Abend und einen guten Start in den Frühling🌷🌺🌼

Redaktion: AMSEL e.V., 21.03.2023