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Physiotherapie bei Multipler Sklerose

Hilfsmittel können die Gehsicherheit erhöhen: Walkingstöcke, Handstöcke bis hin zum Rollator, aber auch Fußheberschienen oder Gleitkufen an den Schuhen, so Klaus Gusowski im AMSEL-Expertenchat zum Thema 'Physiotherapie bei Multipler Sklerose'.


Moderator Patricia Fleischmann: Liebe AMSEL-Chatter, um 7 geht's los mit unserem Chat zur Physiotherapie bei Multipler Sklerose. Sie dürfen gern jetzt schon Ihre Fragen posten.

eifelisa: steht jedem ms-patienten physiotherapie zu? Denn mein Neurologe möchte mir ungern eine verschreiben, wobei ich mit dem gleichgewicht so meine probleme habe als beispiel

Klaus Gusowski: Hallo, eifelisa, tatsächlich steht Ihnen Physiotherapie zu. Diese ist grundsätzlich einem Budget unterworfen, das der Arzt auf seine Patienten verteilt. So erhält der Patient pro Quartal ca 6 - 12 Behandlungen. Als Patient mit einem chronischen Krankheitsbild können Sie bei Ihrer Krankenkasse die "Ausnahme vom Regelfall" beantragen. Mit dieser kann Ihr Arzt auch über die Regelversorgung hinaus Behandlungen verordnen. Die Verordnungen kann auch Ihr Hausarzt ausstellen, sollten Sie weiterhin Probleme haben.

Klaus Gusowski

Leitender Krankengymnast im NRZ Quellenhof in Bad Wildbad.

  • 79–01 Rommel-Klinik Bad Wildbad, stellv. ltd. KG.
  • 01 Ltd. KG im NRZ Quellenhof in Bad Wildbad.
  • 78–82 Ausbildung in der Manuellen Therapie.
  • 81/82 Bobath Grund- und Aufbaukursus mit dem Ehepaar Bobath.
  • 84 Beginn einer Vortrags- und Kurstätigkeit zum Thema Multiple Sklerose und orthopädischen Therapieformen.
  • 84 Gründung der AG-Fortbildung an der Rommel-Klinik, seit 1. 1. 02: AG Fortbildung am NRZ Quellenhof.
  • 91 – 97 Ausbildung zum Bobath-Instructor IBITA.
  • Seit 97 regelmäßige Durchführung des Grundkurses zum Bobath-Konzept IBITA.
  • 91 Vojta-Kursus zur Behandlung Erwachsener Patienten.
  • 99 Zusatzausbildung in der Therapie des Faziooralen Traktes.
  • 00 Ausbildung im Brunkow-Konzept (stimulatives Konzept).
  • 04-06: Ausbildung in der beobachtenden Ganganalyse "Gehen-Aachen zum Thema der Behandlungseffekte bei chronischer Multipler Sklerose
  • seit 96 regelmäßige Vortragstätigkeit für die AMSEL, vor allem für die Regionalgruppe Südbaden.

Moderator Patricia Fleischmann:

Hallo eifelisa! Vielleicht ist ja auch dieser Text interessant für Sie und Ihren Neurologen - die Heilmittelrichtlinien werden ab 1.7.2011 erleichtert: www.amsel.de/multiple-sklerose-news/recht/index.php

 


Allgemein - eifelisa: vielen dank schon mal dafür, werde dies meinem arzt auf jeden fall mitteilen..er hatte es abgetan, da es bei mir nicht so schwerwiegend wäre...aber auch eine vorbeugung ist doch gut?!


Karen: Hallo Herr Gusowski. Welche Physiotherapie schlagen Sie vor bei sek. progr. MS mit schnell fortschreitender Gangunsicherheit (nur nochkurze Laufstrecke), Kraftlosigkeit, Ataxie, das Gefühl, die Beine nicht mehr hoch zu kriegen?

Klaus Gusowski: Hier können wir zwei Linien fahren: 1. Die Physiotherapie muss mit koordinierenden Konzepten arbeiten. Es bieten sich von der traditionellen Physiotherapie die Konzepte von Vojta und Brunkow (Akrodynamik) an, weil diese nicht die Kraft sondern das Zusammenspiel der Muskeln betonen. Ein gezielter Aufbau der hüftbeugenden Muskeln wird ebenfalls das Problem lindern. 2. Hilfsmittel, die die Gehsicherheit erhöhen: Walkingstöcke, Handstöcke bis hin zum Rollator, aber auch Fußheberschienen oder Gleitkufen an den Schuhen, die den Durchschwung der Beine erleichtern und helfen, Kraft zu sparen und das Sturzrisiko zu mindern.

eifelisa: das hilft mir sehr weiter, denn ich weiß, dass mir krankengymnastik(verschrieben wegen rückenprobleme) hilft. ich denke auch, dass es vorbeugend gut ist?!

Klaus Gusowski: Der Erhalt der Aktivität im Sinne von Handlungsfähigkeit für den Alltag steht im Vordergrund physiotherapeutischer Bemühungen. Die Vorbeugung der Beeinträchtigungen von Alltagsfähigkeiten ist ein wichtiges Ziel. Bei Gleichgewichtsproblemen ist dies gleichbedeutend mit einer Veringerung des Sturzrisikos. Hier kann die Physiotherapie bestehende Symptome behandeln aber auch vorbeugend tätig werden. Wichtig ist, dass Sie sich in einem beschütztem Raum (Übung ohne Sturzgefahr) mit dem Gleichgewicht auseinandersetzen. Ich kenne Ihren derzeitigen Zustand nicht - aber von Gleichgewichtsübungen wie Seiltänzergang bis hin zur Erarbeitung der Gleichgewichtsbewahrung z. B. in einer Ecke eines Raumes, die Ihnen hinten und zu beiden Seiten Sicherheit bietet, gibt es viele Möglichkeiten, Ihnen dazu auch Eigenübungen zu vermitteln, die den Effekt der Therapie noch steigern.

Karen: Können meine Schmerzen im rechten ISG auch von den Gangproblemen herrühren? Gibt´s da auch Möglichkeiten?

Klaus Gusowski: Unbedingt! Das ISG ist der Vermittler der Beinaktivität (Stehen, Gehen, Gleichgewicht halten) zur Wirbelsäule. Störungen der Beinsteuerung können sich in das ISG entladen und zu Belastungsreizen führen. Akute Beschwerden können über die Chirotherapie (Manuelle Therapie) behoben werden. Wichtig ist jedoch, das Gangbild positiv zu beeinflussen, damit das ISG nicht als Kompensationsort herhalten muss. Ansonsten kehren die Schmerzen immer wieder. Hier greift neben der konsequenten koordinierenden therapeutischen Behandlung eventuell auch die Versorgung mit Hilfsmitteln, die das Gehen erleichtern.

manu: Hallo, für mich das ganze Thema MS noch sehr neu. Kann man mit einer Physiotherapie der MS vorbeugen ?

Klaus Gusowski: Leider kann man mit der Physiotherapie nur bestehende Symptome behandeln, der MS als Krankheitsbild aber nicht vorbeugen. Als Physiotherapeut sehe ich aber häufig Probleme im Beginn, die mit wenig Aufwand nicht zu wirklichen Problemen werden müssen. Hier können wir präventiv Ratschläge geben. Wichtig ist es mir hier aber zu betonen, dass die aktive Lebensführung für Patienten mit MS extrem wichtig ist. Also: Vorbeugung der MS - nein, Vorbeugung der Symptomverschechterung - ja!

Karen: Könnten Sie vlt. einige Gleichgewichtsübungen beschreiben. Das könnte mir ja auch helfen.

Klaus Gusowski: Gleichgewichtsübungen bei MS-Patienten können vielfältig sein. Um eine klare Antwort zu geben, muss ein Behandler wissen, was die Ursache der Störung ist. Die Probleme können im den Gefühlsbahnen liegen, sodass die Stellung der Füße oder Beine oder die Druck- und Berühungrsreize an der Fußsohle nicht genau empfunden werden, es kann aber auch daran liegen, dass die Gleichgewichtsreaktionen motorisch von der Muskelsteuerung oder -kraft nicht gut ausgeführt werden. Übungen zu empfehlen ist daher schwer. Hier sollten Sie die/den Physiotherapeutin/en fragen, die/der Sie behandelt.

eifelisa: mein seiltänzergang ist okay, bei mir ist das kuriose, dass mir gerade stehen und manchmal sitzen schwer fällt und ich anfange zu schwanken(mit geschlossenen augen schlimmer), hatte bisher offiziell zwei schüber auf dem auge und einmal am trigeminusnerv.

Klaus Gusowski: Ein guter Seiltänzergang ist schon enorm! Das Stehen und Sitzen erfordert viel Kontrolle in Becken und Rumpf. Hier muss die Therapie zur Erarbeitung der Kernstabilität (core-stability) einsetzen. Das Schwanken mit geschlossenen Augen deutet darauf hin, dass Ihr Zentrales Nervensystem zu wenig Informationen über die Fuß- und Beinstellung sowie der Muskellängen und -spannungen erhält. Diese Informationen werden der "Tiefensensibilität" zugerechnet. Auf der einen Seite sollten Sie sich mit dem Gefühl in den Beinen auseinandersetzen. Aufstampfen auf dem Boden aber auch Gefühlsreize an der Fußsohle können helfen. Übungen zum Aufbau vor allem der den Oberkörper drehenden Muskeln erhöhen die Kernstabilität und zur Vorsicht sollten Sie das Gehen in dunklen Räumen meiden (nächtlicher Toilettengang ohne Licht, Verlassen der Hauses im Dunkeln...)

Karen: Was halten Sie vom Thera-Trainer? Wenn gut - wie oft und wie lange?

Klaus Gusowski: Der Thera-Trainer ist ein gutes Gerät gegen Spastik in den Beinen oder Armen, aber auch zur Aktivierung der streckenden Muskeln in Bein und Arm. Der Vorteil ist, dass er sowohl passiv als auch aktiv genutzt werden kann. So können Sie eine Ruhepause einlegen, während die Extremitäten bewegt werden oder auch wieder aktiv einsteigen und z. B. den Symmetrietrainer benutzen. Wir empfehlen, den Trainer täglich zu nutzen. Passiv darf es ruhig 30 Minuten 2 - 3mal am Tag sein, aktiv müssen Sie es von Ihrer Leistungsfähigkeit abhängig machen. Sie sollten eine mittlere Anstrengung spüren. Aktives Training empfiehlt sich 2 - 3mal pro Woche unter Trainingsbedingung (Pulsfrequenz ca. 70 - 80% der maximalen Herzfrequenz), im ruhigen Tempo auch täglich. Die maximale Herzfrequenz ist recht individuell. Die Faustregel im mittleren Lebensalter lautet 220 - Lebenalter.

Karen: Im Krankenhaus wurde bei mir einmal E-Technik angewendet. Wie stehen Sie zu dieser Methode? Wird , glaub ich, selten angewandt, soll aber sehr effektiv sein.

Klaus Gusowski: Die E-Techniken sind eine Abwandlung und Erweiterung der Vojta-Therapie. Beide sind sehr effektive Konzepte auf der Ebene der "Reflexmotorik", also einer eher reflektorischen Bewegungstherapie. In unserer Klinik kommen beide Techniken zur Anwendung und zeigen gute Erfolge. Allerdings spricht nicht jeder Patient gleich gut darauf an. Patienten sollten das mit dem Therapeuten abgesprochene Therapieziel beobachten. Sollte sich keine positive Veränderung zeigen, muss man vielleicht auf ein anderes Konzept umschwenken.


Allgemein - eifelisa: hallo an alle!mich würde mal interessieren, spritzt ihr euch oder verzichtet ihr auch diese basistherapien?

Allgemein - Karen: Ich spritze Copaxone, bin aber jetzt wohl trotzdem in die progrediente Form gerutscht.

Allgemein - eifelisa: was heißt das noch mal, dass es immer weiter schlimmer wird?copaxone...ist das täglich unter die haut?


Karen: Vielen Dank für die Beantwortung meiner Fragen. Ich werde morgen die restlichen Antworten noch lesen, da ich jetzt leider weg muss.

Klaus Gusowski: Einen schönen Abend noch und gute Lektüre morgen!

Margretle: Hallo Herr Gudowski, zur Unterstützung meiner Vojtabehandlung ist mir der leider etwas globige Balancetrainer empfohlen worden. Was halten Sie davon? Ich muss mich dann in meiner Einrichtung etwas einschränken. Viele Grüße von Margretle

Klaus Gusowski: Der Balancetrainer kann den alleine nicht stehfähigen Menschen befähigen, über das einfache Stehtraining hinaus mit seinem Gleichgewicht zu experimentieren und seine Bein- und Körpersteuerung im Sinne der Balance zu verbessern. Insofern ist er eine Bereicherung des reinen Stehtrainings. Die in der Vojtatherapie angestoßene Muskelkoordination würde damit in einer Gleichgewichtsaufgabe aufgenommen und verstärkt. Dr. Vojta hat die Aktivität der Patienten nach der Vojtatherapie nicht nur begrüßt sondern auch gefordert. Ich kenne Ihren derzeitigen Zustand leider nicht und bin mir deshalb nicht sicher, ob dies in Ihrem speziellen Fall eine Bereicherung wäre. Sollten Sie andere Möglichkeiten haben, die aufbauende Wirkung der Vojtatherapie in Alltagsaktivität umzusetzen, können Sie auch das erst einmal versuchen.

eifelisa: würde das auch eine erklärung für das problem beim autofahren deuten?wenn ich nach ca. 20min. fahrt an einer ampel zum stehen komme, kommt es vor dass mir auch anders wird und umso länger ich so fahre, geht das gefühl in den beinen weg(probleme beim anschließenden laufen)? diese punkte konnte mir bisher kein arzt erklären und daher nicht weiter vefolgt.

Klaus Gusowski: Eine neurologische Untersuchung der Sensibilität (Oberflächen- und Tiefensensibilität) kann hier Aufschluss geben. In der Tat kann dies schon eine Erklärung für das schwindende Gefühl in den Beinen und damit verbunden Probleme beim Gehen sein. Auch wenn Ihr Neurologe dies noch nicht feststellen konnte (nicht alles ist immer so eindeutig feststellbar), sollten Sie Ihre Schwierigkeiten beim Autofahren beobachten und gegebenenfalls eine Lösung finden, die Sie im Fahren sicher macht. Eventuell kann auch die Umrüstung des Autos auf handgas und -bremse dabei helfen.

Moderator Patricia Fleischmann:

Man lernt doch nie aus, auch nach 7 jahren Redaktionsarbeit für die AMSEL nicht. Ein Seiltänzergang heißt, einen Fuß vor den anderen auf einer gedachten Linie zu setzen. Mehr über "Gangstörungen" weiß Wikipedia: de.wikipedia.org/wiki/Gangst%C3%B6rung

 

eifelisa: vielen dank für die antworten, ich werde diese mit meinem neurologen besprechen.

Klaus Gusowski: Super. Auch Ihr Phyisotherapeut kann ein paar Tests machen und zumindest grobe Auffälligkeiten erkennen.

Moderator Patricia Fleischmann: Liebe Chatter, haben Sie vielen Dank für Ihre Antworten. Ein ganz GROSSES DANKE auch an Klaus Gusowski für seine erhellenden Antworten und Ratschläge hier! Weiter gehts am 5. Juli 2011 mit Prof. Christian Dettmers zu den "Unsichtbaren Symptomen". Einen schönen Abend noch an alle!

Redaktion: AMSEL e.V., 21.06.2011