Neuroprotektion

Eine Stellungnahme zu Tysabri ist noch in diesem Jahr möglich, so Prof. Bernd Kieseier beim AMSEL-Chat vom 18.10.05.

Moderator Patricia Fleischmann: Einen schönen guten Abend, liebe Chatter! Als AMSEL-ChatExperten begrüße ich ganz herzlich Prof. Bernd Kieseier aus Düsseldorf!

Alix: Hallo und guten Abend Herr Prof. Kieseier, halten Sie eine Grippeschutzimpfung bei MS grundsätzlich für empfehlenswert ?

Prof. Bernd Kieseier: Hallo und Guten Abend, liebe Chatter! Freue mich auf einen hoffentlich anregenden Abend im Amsel-Chat! Hallo Alix! Grundsätzlich halte ich eine Grippeschutzimpfung für nicht zwingend erforderlich; dies sollte individuell entschieden werden; klar ist, dass eine Grippe einen Schub theoretisch auslösen kann, dass man sich i.R. einer Grippe allg schlechter fühlt etc.; zu bedenken gilt, ob gleichzeitig eine immunsuppressive Therapie, z.B. mit Mitoxantron durchgeführt wird, dann dürfte es für den Körper schwer sein, einen entsprechenden Schutz aufzubauen; die gegenwärtige Vogelgrippe-Diskussion in den Medien sollte aber nicht zu übertriebener Panik verleiten.

Martin: Hallo Herr Professor, ich habe schon des öfteren gelesen, dass Copaxone neuroprotektiv wirken soll. Ist da was dran?

Prof. Bernd Kieseier: Hallo Martin! Dies ist eine gute Frage und nicht mit einem Satz zu beantworten: 1. Grundsätzlich stellt sich die Frage was "neuroprotektiv" ist; klingt gut, aber jeder versteht möglicherweise etwas anderes darunter. Sagen wir 'mal "neuroprotektiv" soll bedeuten, dass Cop die Nervenzellen schützt, in dem es direkt die Nervenzellen mit schützenden Proteinen versorgt. So zumindest wird es in den Broschüren kommuniziert, die experimentelle Evidenz ist bisher leider noch nicht so weit, dass man diese Aussage so treffen kann. Ja, Cop führt dazu, dass T-Zellen solche "guten Proteine", neurotrophe Faktoren genannt, produzieren; man kann solche Zellen auch im Tiermodell im Gehirn von Mäusen/Ratten finden, aber bisher fehlt der Nachweis, dass das (a) im Menschen auch so ist und (b) dass diese Zellen auch in irgendeiner Form die Nervenzellen schützen. Kurz: Das Konzept klingt gut, der abschliessende experimentelle Nachweis ist leider noch nicht vollbracht.

micha: Guten Abend Herr Prof. Kieseier ! wie bewerten Sie das Medikament Frampridine zur Verbesserung der Nervenleitgeschwindigkeit? wie bewerten Sie das in der Testphase befindliche Med. Pirfenidon bei SPMS? Danke für Ihre Antworten !

Prof. Bernd Kieseier: Hallo Micha! - Pirfenidon: m.E. eine interessante Substanz, zumal in Tablettenform verfügbar; unlängst wurde eine kleine ermutigende Studie an Patienten mit SPMS publiziert; die Ergebnisse sind ermutigend, was eine grössere Studie gerechtfertigt erscheinen lässt. Wir sollten uns aber immer vor Augen halten, dass schon viele Präparate in kleinen Studien vielversprechend aussahen, aber bei grossen Patientenkollektiven diese Ergebnisse leider nicht wiederholt werden konnten; somit sollten wir immer solche grossen, Phase-III genannten, Studien abwarten. - Fampridin (4-Aminopyridin) kann kurzfristige Beschwerden bessern und ist somit im Rahmen einer sog. symptomatischen Therapie zu sehen; leider ist die therapeutische Breite des Präp. eingeschränkt, d.h. man muss genau die Dosierung beachten, da es sonst zu Nebenwirkungen kommen kann, wie z.B. epileptischen Anfällen. Derzeit laufen Studien bei Pat. mit MS, aber auch Rückenmarkstrauma; auch hier gilt, dass wir die Ergebnisse abwarten sollten, da die bisherigen Studienergebnisse für eine allg. Zulassung bei der MS nicht ausreichen.

Nici: Hallo Her Professor, ich leide seit 22 Jahren an einem benignen Verlauf an MS. Nehme seit 11 Jahren Imurek. Meine Frage, was halten Sie von einer prophylaktischen Cortison-Stoßtherpie - 2 mal im Jahr?

Prof. Bernd Kieseier: Hallo Nici! Frage zurück: Was ist ein "benigner" Verlauf ? Die MS kann ja deshalb so günstig verlaufen, weil in den 11 Jahren mit Imurek das Immunsystem kontrolliert wurde. Leider können wir nicht vorhersagen, wie eine MS mit/ohne Therapie verlaufen wird; ausserdem haben wir nur unzureichende Parameter zur Hand, um die wirkliche Krankheitsaktivität zu messen. Cortison-Stoß: Es gibt nur wenige Studien zur prophylaktischen Cortison-Stoßtherapie, aber in einer Studie zeigte sich die fixe Gabe von Cortison alle 3 Monate als potentiell wirksam. Es wird aber wohl nie eine Studie geben, in der der richtige Stellenwert von wiederholten Steroidpulsen untersucht wird. Daher, wiederholte Steroidpulse sind denkbar, aber m.E. eher als Ausweichmanöver, wenn herkömmliche Wege nicht ausreichen.

micha: noch eine Frage zu Pirfenidon. Als Ergebnis dieser kleinen Studie wurde festgestellt, dass sich die SNRS-Werte signifikant gebessert hätten, der EDSS-Wert jedoch nicht - was sagen diese Werte aus? Danke für Ihre Antwort!

Prof. Bernd Kieseier: Scripps Neurological Rating Scale (SNRS) ist eine andere Skala, an der die klinische Behinderung gemessen werden kann; normalerweise wird die EDSS (Expanded Disability Status Scale) verwendet. Die Studie war nur für 12 Monate angelegt; eine signifikante Veränderung in 12 Monaten gemessen im EDSS ist bei der chron. verlaufenden MS nicht zu erwarten; das bekommt man mit keinem Präparat hin. Der positive Befund in der SNRS mindert die Aussage der Studie nicht bei dem vorliegenden Untersuchungszeitraum.

micha: Herr Prof. Kieseier, halten sie es für wahrscheinlich, dass in den nächsten 5 Jahren ein sicherer Stillstand der MS ereicht werden kann und kennen Sie zur Zeit laufende Studien die diese Einschätzung rechtfertigen? Danke für Ihre Antwort!

Prof. Bernd Kieseier: Hallo Micha! Ein sicherer Stillstand wäre natürlich absolut wünschenswert, aber wir haben ehrlicherweise noch nicht einmal die Mittel einen sicheren Stillstand zu messen. Selbst die Kernspintomographie bildet die Krankheitsaktivität nur in Teilen ab. Derzeit gibt es kein Präparat auf dem Markt, das einen solchen Stillstand erzielt. Das vielversprechenste in meinen Augen war/ist Tysabri; ob es wieder auf den Markt kommt, werden wir in den kommenden Monaten sehen.

Babel: Was kann man über die immunologische Behandlung hinaus tun, um den Verlauf und die Lebensqualität zu verbessern?

Prof. Bernd Kieseier: Hallo Babel: Verlauf - es gibt zahlreiche versch. Empfehlungen, wie z.B. Diät, die angeblich auch den Verlauf beeinflussen sollen. Tatsache ist, dass es dafür keine eindeutigen Erkenntnisse gibt, im Gegenteil; gutes Beispiel, ganz aktuell, Bienengift; von vielen empfohlen, jetzt gezeigt, dass es nicht wirkt. Letztendlich was wirklich zählt ist Lebensqualität und hierfür gibt es m.E. keine Einschränkungen; jeder soll so leben, wie er es für sich sinnvoll erachtet; klar, Sport und gesunde Ernährung sind sinnvoll, aber die Diagnose MS bedeutet NICHT, dass man als Patient das Leben nicht mehr geniessen soll; also, Lebensqualität ist ganz wichtig und jeder kann das für sich am besten definieren.

micha: Hallo Herr Prof. Kieseier, zu Tysabri noch eine Frage: das Problem bei diesem Medikament war doch, dass es die Bluthirnschranke komlett verschlossen hat, also nicht nur die negativen T-Zellen selektiert wurden und so erst die Todesfälle entstehen konnten. Wir das Medikament Ihrer Meinung nach bei einer Wiederzulassung dann in einer modifizierten Form vorliegen?

Prof. Bernd Kieseier: Hallo Micha! Bei Tysabri kam es in der Tat zu drei Fällen einer Viruserkrankung, die bei 2 Pat. tödlich verlief. Warum es dazu kommen konnte, ist nicht klar; eine Hypothese ist, dass die Bluthirnschranke undurchlässig wurde, aber hier sollte man weitere Untersuchungen abwarten. Tatsache ist aber auch, dass alle übrigen Patienten, die bisher mit Tysabri behandelt wurden, keinen Hinweis auf o.g. Viruserkrankung zeigen. Von über 2000 Patienten wurden Proben in drei verschiedenen und unabhängigen Laboratorien untersucht und es zeigte sich KEIN Hinweis auf eine Infektion mit dem sog. JC Virus. Das Präparat wird sicherlich nicht in modifizierter Form auf den Markt kommen, die Frage ist nur, wenn es zugelassen werden sollte, ob und mit welchen Auflagen eine Wiederzulassung verbunden sein würde.

Babel: Wovon hängt die Zulassung jetzt noch ab und kommt sie noch in diesem Jahr?

Prof. Bernd Kieseier: Gegenwärtig prüfen die amerikanischen Zulassungsbehörden wie das Risiko von Tysabri einzuschätzen ist. Zunächst wird also eine mögliche Zulassung von Tysabri für die USA geprüft; möglicherweise gibt diesbzgl. noch in diesem Jahr eine Stellungnahme; für Europa und somit Deutschland ist Tysabri sicherlich erst 2006 wieder ein Thema.

micha: gibt es noch andere krankheitsfördernde Wege als die über die Bluthirnschranke? und wie erklärt man sich einen progredienten Verlauf im Vergleich zum schubförmigen? Danke für Ihre Antwort!

Prof. Bernd Kieseier: Hallo Micha! Gute Frage! Wir glauben derzeit, dass bei den meisten Patienten eine Immunreaktion, die im Körper erzeugt wird, über die Bluthirnschranke letztendlich zur Erkrankung führt. Wir denken aber auch, dass mit der Zeit diese Immunantwort immer weniger von Bedeutung ist und dass eine durch die Entzündung entstandene Degeneration der Nervenzellen und Nervenhüllen-bildenden Zellen zum weiteren Forschreiten der Erkrankung führt; somit sind dann auch die Immunmodulatoren nicht mehr zwingend wirksam. Nach den Neuropathologen gibt es aber auch Hinweise, dass einige wenige Patienten gar nicht mit Entzündung beginnen und dass bei diesen Fällen von Anfang an ein Untergang der Nervenhüllen-bildenden Zellen vorliegt. Leider können wir nicht per Bluttest o.ä. sagen, was bei welchem Patient vorliegt. Ziel sollte sein, dass wir von Anfang an wissen, was bei jedem Patient individuell passiert, um dann entsprechend die Therapie anzupassen.

Babel: Welche Auflagen könnte Tysabri bekommen?

Prof. Bernd Kieseier: Kann ich nicht beantworten - das können und sollen die Gesundheitsbehörden entscheiden.

micha: noch eine Frage und im Voraus vielen Dank für die Beantwortung! Kann man die MS von einer chronisch inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie abgrenzen?

Prof. Bernd Kieseier: Hallo Micha! Klare Antwort: Kein Problem. Die MS ist eine Erkrankung des zentralen Nervensystems (Gehirn und Rückenmark), die chronisch entzündl. demyelinisierende Polyneuropathie (Abk.: CIDP) ist eine Erkrankung der peripheren Nerven, also der Nerven in den Armen und Beinen. Das lässt sich in der klinischen Untersuchung leicht trennen. Die CIDP wird aufgrund des chron. Verlaufes und der teilweise auch schubförmig auftretenden Verschlechterung als "MS des peripheren Nervensystems" bezeichnet. Aber, wie gesagt, die Unterscheidung bereitet dem Neurologen keine Probleme.

micha: Herr Prof. Kieseier ich möchte mich recht herzlich für Ihre kompetenten Antworten bedanken und für die Zeit die Sie sich dafür genommen haben !

Prof. Bernd Kieseier: Vielen Dank für die Fragen! Es hat mir sehr viel Spaß gemacht!

Moderator Patricia Fleischmann: Danke, liebe Chatter, für Ihre interessanten Fragen! Und ganz herzlichen Dank an Sie, Prof. Kieseier, für die Antworten. Am 15. November haben wir das Thema "Mit MS umgehen", zu dem Marion Held-Holland, Dipl.-Psychologin & Neuropsychologin antworten wird. Allen noch einen schönen Abend!

Redaktion: AMSEL e.V., 18.10.2005