Neues von der AAN 2008

03.06.08 - Die ersten oralen Wirkstoffe werden wohl 2011/12 auf den Markt kommen, so PD Dr. Andrew Chan im AMSEL-Expertenchat. Auswertung und Prüfung nehmen nach Studienabschluss noch einige Zeit in Anspruch.

Moderator Patricia Fleischmann: Willkommen zum AMSEL-Expertenchat! Heute antwortet Ihnen PD Dr. med. Andrew Chan zu neuen und neuesten MS-Therapien. Wir sind gespannt auf Ihre Fragen!

Gaby: Hallo, wofür steht eigentlich AAN?

PD Dr. Andrew Chan: Guten abend! AAN ist die American academy of Neurology, die Vereinigung der amerikanischen Neurologen. Auf dem Kongreß waren ca. 12.000 Teilnehmer, aber nicht nur Amerikaner, sondern Gäste weltweit, daher ist dies auch der zumindest zahlenmäßig wichtigste Kongreß.

Edwin: Hallo Dr. Chan, können Sie einschätzen, wann die ersten oralen Medikamente für die MS-Behandelung in Deutschland auf den Markt kommen?

PD Dr. Andrew Chan: Hallo Edwin, in der sogenannten Phase III Studie, d.h. in der Phase vor der Zulassung, in der an großen Gruppen die Wirksamkeit und Nebenwirkungen überprüft werden, befinden sich zur Zeit mehrere orale Medikamente. Wenn alles gut geht, könnten die ersten Medikamente ca. 2011/12 kommen, davor stehen aber wirklich noch einige Hürden. Auch ist sicher nicht klar, ob alle Substanzen, die derzeit geprüft werden, tatsächlich dann auch auf den Markt kommen.

Schnecke: Guten Abend, Herr Dr. Chan. Mich interessiert sehr, ob auf der AAN neue Erkenntnisse zu Sicherheit und Wirksamkeit von Rituximab zur Sprache kamen. Herzlichen Dank für die Beantwortung unserer Fragen.

PD Dr. Andrew Chan: Gute Frage! Nein, ganz neue Erkenntnisse gab es nicht. Es gab einige Monate vorher schon eine Veröffentlichung über Rituximab bei der MS, die ja die ermutigenden Ergebnisse (Kernspintomographisch hauptsächlich) gezeigt hat. Auf der AAN gab es einige Ideen zu Wirkungsweisen, also z.B. die anhaltende Verringerung bestimmter Typen von B-Zellen. Neue Sicherheitshinweise gab es nicht. Man sollte aber erwähnen, daß Rituximab vermutlich nicht für die MS so zugelassen werden wird, da die Firma dieses nicht so anstrebt, sondern lieber mit einem moderneren Präparat mit gleicher Wirkweise kommen möchte.

Baba: Guten Abend Herr Dr. Chan! Ich habe wahrscheinlich Devic. Neben Imurek bekomme ich alle 3 Monate eine Kortison Therapie (3 x 1g). Gibt es dazu neue Erkenntnisse?

PD Dr. Andrew Chan: Lieber Baba, zum Devic gibt es eine Vielzahl neuer Erkenntnisse, wahrscheinlich ist dies das Gebiet, wo wir wirklich in den letzten 5 Jahren am meisten dazugelernt haben. Imurek wird als eine Möglichkeit der Therapie angesehen, aber nicht die einzige. Das ist auch abhängig von der Ausprägung der Erkrankung. Bezüglich der wiederholten Kortisontherapien gibt es aus der "normalen" MS Hinweise für mittelfristige "gewebeschonende" Effekte (vor allem aus kernspintomographischen Untersuchungen). Da man auch einen ganzen chat über Devic machen könnte, gibt es etwas spezifisches, was ich dafür noch berichten kann?

Moderator Patricia Fleischmann: @ Baba: Herr Dr. Chan hatte eine Rückfrage an Sie: Gibt es noch etwas Spezielles, was Sie zu Devic interessiert?

Katrin: Hi, was genau ist Devic? Eine Unterform der MS?

PD Dr. Andrew Chan: Das war früher eine Glaubensfrage, ob Devic eine Unterform der MS ist, oder ob es wirklich eine eigene Erkrankung ist. Mittlerweile haben wir sehr viele neue Ergebnisse, die doch zeigen, daß es eher als eigenständige Erkrankung anzusehen ist. Deshalb ist auch dort die Diagnostik (hier gibt es spezielle Antikörper im Blut, und auch bestimmte Kernspinauffälligkeiten) und die Therapie (zuletzt sehr häufig Rituximab diskutiert) anders als bei der MS. Das hängt damit zusammen, daß wir denken, daß bei dem Devic Syndrom bestimmte Immunzellen, die B-Zellen, eine ganz besondere Bedeutung haben, so daß natürlich Therapien, die gegen B-Zellen gerichtet sind, wie z.B. Rituximab dort gerade heiß diskutiert werden.

Marc: Ich habe gehört, dass die ertsen Phase3-Studien schon Ende 2009 fertig sind. Warum dauert es dann noch 2, 3 Jahre, bis die Medis zugelassen sind?

PD Dr. Andrew Chan: Ja, das stimmt. Aber die Auswertung dauert eine Zeit, d.h. die Analyse der Wirksamkeitsdaten aber auch das Zusammentragen der Nebenwirkungen. Die Firmen müssen diese Daten dann bei den Zulassungsbehörden einreichen. Diese (in USA die FDA, in Europa die EMEA) brauchen auch immer noch Zeit, die eingereichten Unterlagen zu überprüfen, so daß man dann sehr schnell auf diese Verzögerung kommt. Von ersten Experimenten z.B. in Tieren bis zur Zulassung eines MS-Medikamentes können heutzutage gut 13-15 Jahre vergehen.

Michaela: Guten Abend. Gibt es endlich ein Medikament zur Behandlung der sek.Progred.MS ausser Mitoxantron?- Danke

PD Dr. Andrew Chan: Guten Abend Michaela, na ja, es gibt ja außer Mitoxantron schon einige zugelassene Medikamente für die sekundär chronisch progrediente MS (SPMS). Einige der Interferone sind ja zugelassen, insbesondere, wenn noch überlagerte Schübe vorhanden sind. Aber ich gebe Ihnen Recht, daß die Auswahl für diese Phase der MS nicht besonders befriedigend ist. Regelmäßige Kortisonpulse, Cyclophosphamid, Methotrexat sind so Dinge, die bei einzelnen Patienten zum Einsatz kommen. Es gibt aber derzeit einige Studien, in der die Substanzen auch für die SPMS getestet werden, und wir hoffen, daß wir dort positive Ergebnisse sehen. Das wird allerdings noch dauern. Vielleicht noch ein Wort auch hier zum Rituximab, weil es derzeit in jedermanns/fraus Munde ist: es ist gerade über eine Studie bei der primär (!, Achtung, nicht verwechseln mit sekundär) chronisch progredienten MS berichtet worden, leider auch diese leider mit negativem Ergebnis.

Pia: Gibts Neues über den Unterschied zwischen primär progredient und schubförmig bzw. sek. progredienter Form?

PD Dr. Andrew Chan: Ja und nein. Ja, wir wissen mehr über unterschiedliche Charakteristika, also, daß z.B. die primär chronisch progredienten Patienten häufig älter sind. Auch wissen wir, daß es weniger häufig z. B. im Kernspintomogramm zu den akut entzündlichen Veränderungen kommt. Bezüglich der Ursache, warum eine Verlaufsform primär chronisch progredient verläuft, wissen wir leider aber nicht wirklich etwas Neues.

Michaela: Mein Zustand verschlechtert sich rasch, ich bin auch sehr unsicher auf den Beinen und falle oft. Gibt es da vielleicht Med., die einen kräftiger oder sicherer machen?

PD Dr. Andrew Chan: Liebe Michaela, das ist eine sehr schwierige Frage, da ich Sie nicht untersuchen kann und mir einen Eindruck vermitteln kann, welches das Hauptproblem ist, also z.B. Spastik, Schwäche, Gangunsicherheit (Ataxie) etc. Das ist natürlich die Voraussetzung für eine Therapieempfehlung, die im Internet nicht machbar ist. Vielleicht mal ein paar generelle Dinge: Grundlage ist die optimale symptomatische Therapie, also genau die Therapie der o.g. Symptome, sehr individuell eingesetzt, ggf. sogar während eines eines stationären Aufenthaltes in einer MS-Spezialklinik, wo Physiotherapeuten, Ergotherapeuten usw. zusammenarbeiten. Im Bereich der symptomatischen Therapie ist zuletzt auch viel über das sogenannte 3,4, Diaminopyridin berichtet worden, dies wäre ein individueller Heilversuch. Man kann sich das so vorstellen, daß die Nervenfasern vorübergehend in ihren elektrischen Eigenschaften stabilisiert werden. Die Substanz hat aber Nebenwirkungen und ist ein sog. individueller Heilversuch, d.h. so formal nicht zugelassen. Dann baut auf die symptomatische Therapie die Immuntherapie auf, hier muß man schauen, um welche Phase der Erkrankung es sich handelt, bevor man die verschiedenen Substanzen anwenden kann, sowas wie Mitoxantron war ja schon erwähnt worden. Also beide Bereiche -optimale symptomatische Therapie und optimale Immuntherapie- müssen zusammen angewandt werden und können auch nur zusammen wirken.

Cordula: Was hatte die AAN zu den Ursachen von MS zu berichten? Kann man sich - vorher - schützen durch bestimmte Lebensweisen oder über Nahrungsergänzung?

PD Dr. Andrew Chan: Auf der AAN selber gab es zu Ursachen der MS nicht unheimlich viel Neues. In den letzten Monaten sind aber neue Ergebnisse zu genetischen Risikofaktoren, also Risikofaktoren aus dem Erbgut berichtet worden, die unser Bild von der Entstehung der MS aufgrund eines dysregulierten Immunsystems bekräftigen. Eine interessante Entwicklung ist auf der AAN vorgestellt worden, und zwar Vitamin D. Hier gibt es ja einige Untersuchungen, die ein zuwenig an Vitamin D mit der MS verbinden. In einer ersten Studie wurde in Nordamerika Patienten Vitamin D in sehr hohen Dosierungen gegeben, das schien sicher zu sein, und auch einen Effekt auf die Schubrate zu haben. Witzigerweise war der Effekt am größten, wenn man im Sommer anfing, Vitamin D in aufsteigenden Dosierungen zu nehmen, dann war im Winter (Vit D hängt von der Sonnenbestrahlung ab) der Effekt am höchsten, mit den dann erreichten höchsten Dosierungen. Das sind aber wirklich nur erste Ergebnisse an ca. 25 Patienten pro Gruppe, daß heißt, das muß man erst noch einmal bestätigen und auch schauen, ob es wirklich sicher ist.

Baba: Vielen Dank für ihre Antwort wg. Devic. Habe ich es richtig verstanden, regelmäßge Kortisongaben sind also auf jeden Fall richtig? Spezielle Fragen habe ich im Moment nicht. Vielleicht gibt es ja in Zukunft wirklich einen Chat speziell zu Devic.

PD Dr. Andrew Chan: Leider kann man das nicht ganz so pauschal sagen. Es kommt darauf an, ob Sie von der Therapie so profitieren, d.h. stabil sind. Häufig ist der Effekt von Cortison bei akuter Verschlechterung des Devic nicht so durchgreifend, und einige Patienen benötigen dann eine Plasmapherese. Wenn Sie stabil sind, und auch keine Nebenwirkungen unter dem Kortison haben, ist das alles nicht so kritisch. Was ich aber sagen will ist, daß es für den Devic gibt es über Ihre Therapie hinaus noch Alternativen gibt, z.B. bei Verschlechterungen. Ihren Vorschlag für einen separaten Chat über den Devic finde ich sehr gut!

Moderator Patricia Fleischmann: @ Baba: Danke für die Anregung; ich denke daran!

Michaela: Was ist denn das Diaminopyridin? Ist das schon länger bekannt? Das Problem ist, mein Neurologe (eigentlich habe ich schon mehrere konsultiert) sagt immer, es gibt nichts gegen progr.MS , nur Cortison und Physiother., nur das hilft nicht besonders.

PD Dr. Andrew Chan: Das ist eine Substanz, die nur Symptome lindern soll, also symptomatisch wirksam ist. Leider beeinflußt sie den Krankheitsverlauf selber nicht. Gegen eine progrediente MS (zumindest, wenn sie sekundär chronisch progredient ist) gibt es schon Therapiemöglichkeiten, aber wie gesagt, das sind schon speziellere und hoch individuelle Therapien. Bei der primär chronisch progredienten MS sind die Möglichkeiten tatsächlich aber sehr begrenzt. Häufig gucke ich noch einmal, ob es sich wirklich um eine primär chronisch progrediente MS handelt, viele Patienten berichten dann doch noch über Schübe in der Jugend oder man findet andere indirekte Hinweise.

Baba: Dann freue ich mich auf einen separaten "Devic-Chat" und informiere mich dort über weitere Therapieempfehlungen und Alternativen.

PD Dr. Andrew Chan: Sehr gerne, jetzt müssen wir nur noch Frau Fleischmann und die AMSEL überreden...

Moderator Patricia Fleischmann: Wie gesagt: Ich setze mich dafür ein und hoffe, das Thema findet Anklang. Derzeit ist noch der Chattermin am 15. Juki offen, gleiche Stelle, gleiche Zeit. Wie sieht es da bei Ihnen aus, Herr Dr. Chan?

Moderator Patricia Fleischmann: "Juki" soll natürlich Juli heißen...

Helmut: Hallo Dr. Chan, sie schreiben das es gegen sek. chr. MS Therapiemöglichkeitem gibt. Welche? Ich habe mal Mitox bekommen und das schon meine Lebensdosis erreicht:

PD Dr. Andrew Chan: Wieviel mg haben Sie denn genau bekommen? Die Gesamtlebensdosis beträgt 140 mg/m2 Körperoberfläche, das wird häufig vernachlässigt. Danach muß man dann sehr genau gucken, auch wie das Mitoxantron gewirkt hat. Theoretisch gibt es Dinge wie Cyclophosphamid, aber auch Substanzen in klinischen Untersuchungen, und einige mehr, aber wie gesagt, hoch individuell. Vielleicht können Sie ja mal in Absprache mit Ihrem Neurologen ein Spezialzentrum in Ihrer Nähe konsultieren (vorausgesetzt, der Neurologe ist nicht selber ein Spezialzentrum).

Moderator Patricia Fleischmann: @ alle: Eine gute Viertelstunde Chatzeit bleibt noch und damit auch die Gelegenheit, ein paar letzte Fragen loszuwerden.

Michaela: Vielen Dank und schönen Abend

PD Dr. Andrew Chan: Schönen Abend auch Ihnen!

Moderator Patricia Fleischmann: @ Michaela: Auch Ihnen einen schönen restlichen Abend!

Michi: Hi! Habe da eine Frage: Ist von den Substanzen in der Pipeline eine bessere Wirkung zu erwarten? Und haben die Oralen die gleichen nebenwirkungen wie Interferone oder andere? Falls ja: gleich schwere oder weniger schwere? Danke schon mal fürs Antworten.

PD Dr. Andrew Chan: Wow, wirklich schwere Frage, weil "die Substanzen in der Pipeline" natürlich ganz unterschiedlich sind und auch ganz unterschiedliche Wirkmechanismen und somit auch Nebenwirkungen haben. Ein Ansatz in der Therapie, den z.B. die ganzen neuen "Antikörper" (Namen z.B. Daclizumab, Alemtuzumab, Rituximab, aber auch Natalizumab) haben, ist der einer "spezifischen" Wirkung. Durch diese Antikörper wird ein bestimmtes Molekül angegangen und z.B. ausgeschaltet, weswegen die Wirkung spezifischer und gezielter sein könnte. Theoretisch könnte das also bei bestimmten Untergruppen von MS besonders gut wirken. Ein Beispiel, was ich ja vorhin genannt hatte, ist z.B. das Rituximab bei Devic, wobei wie gesagt Devic ja vermutlich doch eine eigenständige Erkrankung ist. Allerdings haben wir mit solchen neuen Substanzen wie den Antikörpern ganz neue Nebenwirkungen gesehen, die wir vorher so nicht erwartet hatten, bestes Beispiel ist Natalizumab/Tysabri. Bei den oralen Substanzen gibt es einige, die in den "kleinen" Phase II Studien größenordnungsmäßig ähnliche Effekte auf v.a. kernspintomographische Untersuchungen und Schubrate wie die Interferone hatten, einige wenige auch deutlichere, wobei man da natürlich Äpfel mit Birnen vergleicht. Solche Aussagen kann man nur treffen, wenn man wirklich zwei Substanzen in derselben Studie miteinander vergleicht. Auch die oralen Substanzen haben tw. für uns unerwartete Nebenwirkungen, die wir nicht vorausgesehen haben. Einige orale Substanzen sind schon aus vorherigen anderen Anwendungen bekannt, wie z.B. Teriflunomide in etwas anderer Form aus der rheumatoiden Arthritis, Fumarate aus der Schuppenflechte, oder Cladribin (allerdings injiziert) aus der Krebsheilkunde. Hier können wir uns schon ein bischen an den dort aufgetretenen Nebenwirkungen orientieren.

Moderator Patricia Fleischmann: Verehrte Chatter, verehrter Herr Dr. Chan - für heute sagt der AMSEL-Chat Adieu. Weiter geht es in zwei Wochen, am 17.06.08 mit Prof. Ralf Gold und dem Thema "Internationale MS-Forschung". Wie immer können Sie auch allgemeine Therapiefragen stellen. Bis dahin Ihnen allen herzlichen Dank fürs Mitmachen und eine gute Zeit!

Redaktion: AMSEL e.V., 03.06.2008