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"Kann man Krankheitsbewältigung trainieren?"

Expertenchat mit Dr. Regine Strittmatter am 03.06.03 zum Thema 'Kann man Krankheitsbewältigung trainieren?'.

 

 Moderator Kerstin Boger: Einen schönen guten Abend an Sie Frau Dr. Strittmatter und an alle, die am Chat teilnehmen. Wir freuen uns auf Ihre interessanten Fragen.Markus: Guten Abend! Wie kann eine Diagnose wirklich akzeptiert werden, obwohl sich die Krankheit in der Regel doch immer verschlechtert?Dr. Regine Strittmatter: Guten Abend Markus. Mit dem Wort "Akzeptieren" haben viele Betroffene Probleme. Mit Krankheitsbewältigung ist aber gemeint, dass man sich selbst nicht ausschliesslich als "krank" erlebt, sondern als ein Mensch mit vielen Interessen, Ansichten, Eigenschaften, Facetten, Aufgaben und einer chronischen Krankheit. Bewältigung heisst, trotz MS immer wieder Lebenszufriedenheit zu erfahren und sich selber als jemanden zu erleben, der Einfluss auf seine Befindlichkeit und Alltagsgestaltung nehmen kann. Der Beratungsalltag und einige Studien zeigen, dass Krankheitsbewältigung und Lebenszufriedenheit nicht eins zu eins abhängig ist vom Ausmass der Behinderung.Inge: kann es sein, dass der ursprung der ms angst ist oder von der angst gefördert wird oder eine depression die sich später physisch äußern kann?Dr. Regine Strittmatter: Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Angst oder Depression eine MS verursachen. Mit der MS einher gehen diese Symptome allerdings sehr häufig. Studie zeigen, dass bis zu 50% der MS-Betroffenen unter Depression im Laufe ihrer Erkrankung leiden.Micha: Was tun, wenn mich die Symptome zu stark "quälen"?Dr. Regine Strittmatter: Das kommt darauf an, unter welchen Symptomen Sie leiden. Grundsätzlich gilt aber: die meisten Symptome sind natürlich von der MS verursacht, aber dennoch beeinflusst von verschiedenen Faktoren, z.B. der psychischen Befindlichkeit, dem eigenen Gesundheitsverhalten, der sozialen Unterstützung, persönlichen Einstellungen u.v.m. Es ist wichtig, selber herauszufinden, in welcher Situation sich Symptome verschlechtern oder aber verbessern, welche Gedanken und Gefühle die Symptome begleiten. Es ist auch wichtig, zu lernen, nicht nur etwas gegen die Symptome zu machen, sondern auch etwas für sich zu tun: Herauszufinden, was gut tut, ablenkt oder Spass macht trotz der Symptome.Inge: Angst bedeutet ja auch immer Stress und dieses ist ja bewiesenermaßen schlecht für MSlerDr. Regine Strittmatter: Angst bedeutet Stress, da haben Sie völlig Recht. Wir müssen aber unterscheiden zwischen Faktoren, die den Verlauf der Erkrankung beeinflussen oder möglicherweise einen Schub auslösen und Faktoren, die Ursache der MS sind. Es ist zu vermuten, dass Stress Einfluss hat auf den Verlauf der Erkrankung. Aber: Stress ist ein sehr individuelles Erleben, den Stress gibt es nicht. Nicht jedes persönliche Stresserleben hat eine Verschlechterung der Krankheit zur Folge. Eine Angststörung sollte aber so oder so behandelt werden, sie mindert Ihre Lebensqualität und ist eine zusätzliche Belastung, gegen die Sie etwas unternehmen sollten, z.B. mit Hilfe einer psychotherapeutischen Behandlung.Inge: ich kenne viele, die vor ihrer Erkrankung immer schon Angst hatten nicht gut genug zu sei für was auch immer, incl. mir, und haben mit aller Kraft und Stress versucht mitzuhalten , obwohl sie sich eigentlich nicht wirklich dazu in der Lage fühlten, und dann später kam dann die Diagnose MS.Dr. Regine Strittmatter: Sie suchen nach einer Antwort auf die Frage, warum habe ich MS, warum bricht diese Krankheit bei manchen Menschen aus, bei anderen nicht. Das sind zentrale Fragen. Was alles zusammen kommen muss, damit MS ausbricht, wissen wir allerdings bis heute nicht. Bisher konnte man für keine Krankheit nachweisen, dass eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur oder bestimmte Eigenschaften die Ursache der Erkrankung ist. Eigenschaften und Einstellungen beeinflussen aber sicherlich die Art und Weise, wie jemand mit der Krankheit lebt, wieiviel Lebenszufriedenheit jmd. trotz Krankheit erfährt.Micha: Meine Symptome sind vor allem bei Aufregung (also in einer Stresssituation) sehr deutlich zu spüren. Damit kann ich inzwischen leben. Aber wenn plötzlich aus heiterem Himmel, wie z.B. heute in meinem linken Fuß ein neues Sensibilitäts-Gefühl wahrnehmbar ist, dann packt mich die ANgst, nach dem Motto "Jetzt wird es schlimmer und bald muss ich mich outen, d.h. auch auf der Arbeit sagen, was mit mir los ist". Das sind die Momente , wo die MS für mich ganz greifbar bedrohend wird.Dr. Regine Strittmatter: Was Sie beschreiben, ist das was es oft so schwierig macht, mit MS zu leben: Das Unvorhergesehene, Unkontrollierbare. Viele MS-Betroffene fühlen sich in so einem Moment hilflos oder bekommen Angst. Ihre Angst bezieht sich auch auf eine konkrete Situation: Was passiert, wenn ich es am Arbeitsplatz sagen muss. Hier kann es hilfreich sein, mit einem Berater oder anderen MS-Betroffenen über Ihre Ängste zu sprechen, die möglichen Konsequenzen durchzusprechen und nach konkreten Handlungsmöglichkeiten zu suchen, falls das, was Sie befürchten eintritt. Oft bringen einem diese Gedanken was alles sein könnte in einen Abwärtsstrudel, den man unterbrechen kann, auch wenn das Ungewisse der Zukunft Realität bleibt.Inge: Therapie mache ich, mein Therapeut hat viele MSler und dabei ist herausgekommen dass sie alle Angst hatten vor was auch immer bevor sie die Diagnose bekamen, also nicht gut genug zu sein, kann es ein Kindheitstrauma sein.Dr. Regine Strittmatter: Ihre Hypothese ist, dass die Angst nicht zu genügen, nicht gut genug zu sein, die Ursache der MS ist. Der bisherige Forschungsstand unterstützt diese Hypothese so nicht. Die Angst nicht zu genügen ist aber für viele Menschen ein zentrales Lebensthema. Und es ist auch ein zentrales Thema, wenn man in unserer Gesellschaft mit einer chronischen Krankheit leben muss.Carola: Guten Abend ..die MS schränkt mich extrem ein. Ich möchte die Krankheit gerne annehmen, doch es gelingt mir nicht. Und ich merke, immer mehr, das ich nicht mehr bereit bin..sie (laut Therapeut) sie anzunehmen..ich bekomme eine richtige Wut auf sie...Fazit..es verschlimmert sich. Ein Kreislauf...wie komme ich denn da raus?Dr. Regine Strittmatter: Guten Abend Carola. Vielleicht geht es für Sie nicht darum, die Krankheit anzunehmen, sich mit ihr auszusöhnen, sondern zu lernen etwas für sich zu tun, trotz der Krankheit Ihre Frage hört sich auch fast so an, als ob Wut keine angemessene Reaktion auf Ihre Situation und die Erkrankung wäre und die Krankheit verschlimmert. Wut ist nicht einfach ein destruktives Gefühl. Sie wird erst dann destruktiv, wenn keine anderen Gefühle daneben mehr Platz haben. Vielleicht muss auch Ihre Wut einen angemessenen Platz bekommen - in der Wut steckt auch Energie.Gertie: Hallo,ich habe Schwierigkeiten in meiner Beziehung, manchmal möchte ich sie beenden , er sagt er liebt mich, wie wird es aber in unserer Beziehung aussehen, wenn es mir richtig schlecht gehen sollte. Wir sind schon lange zusammen doch habe ich ein ungutes Gefühl bei dem Gedanken wie unser Liebesleben aussehen wird, wenn die MS schlimmer wird (Inkontinenz z.B.) es ist sehr wichtig für ihn, meine Lust hat ziemlich abgenommen und da habe ich ein Schuldgefühl, obwohl ich weiß daß es Unsinn ist.Dr. Regine Strittmatter: Hallo Gertie. Ihre Lust hat abgenommen. Das passiert vielen Paaren, wenn sie länger zusammen sind. Mit MS kommen noch die Ungewissheit oder aber spezifische Symptome dazu, die das Liebesleben erschweren. Wichtig ist, dass Sie mit Ihrem Partner über Ihr Liebesleben sprechen, v.a. auch über das gegenwärtige. Suchen Sie gemeinsam nach Möglichkeiten, es wieder lustvoller zu gestalten. Es gibt einige gute Ratgeber und auch spezialisierte TherapeutInnen, die hier weiter helfen können. Ihre Partnerschaft besteht aber nicht nur aus Ihrem Liebesleben - versuchen Sie auch hier mit Ihrem Partner darüber zu sprechen, was Ihre Partnschaft wertvoll macht, wie Sie sie lebendig halten können, wie Sie sich gegenseitig unterstützen und verwöhnen können, sich stressfreie Zeiten zu zweit gönnen können.Carola: Das stimmt...und das ist das was ich meine...im Moment sind da keine anderen Gefühle außer Wut. Und meinetwegen ist sie auch destruktiv-und sie ist da? Ich vermute zu wissen was sie mit "angemessenen Platz" meinen..und sicher steckt darin auch Energie...trotzdem bleibt die Einschränkung. Verstehen sie was ich meine?Dr. Regine Strittmatter: Der Verlust, die Einschränkung bleibt; die MS fordert immer wieder aufs Neue die Auseinandersetzung damit. Die Bewertung der Einschränkungen und deren Stellenwert kann - so komisch sich das für Sie im Moment vielleicht anhört - sich aber verändern. Eine Betroffene sagte mal zu mir: "Ich kann doch nicht 20 Jahre lang geschockt sein!"Carola: Das heißt dann: Das Ziel ist damit zu leben-ohne geschockt zu sein. Dann wären wir beim annehmen, gelle. Ich sitze schon ne ganze Ecke lang im Rolli. Und ich bin erst 33. Wie soll sich mein Stellenwert noch ändern. Ich will das was sie sagen so gerne glauben. Im Kopf ist es (auch schon ein paar Tage) doch es rutscht nicht ins Herz runtertDr. Regine Strittmatter: Ich weiss nicht, ob es gelingen kann mit der Krankheit zu leben, ohne nicht immer wieder auch geschockt oder wütend zu sein. Die Frage ist, ob es gelingt, immer wieder Zeiten zu erleben, in denen andere Gefühle im Vordergrund stehen und nicht Ihr Stellenwert, sondern der Stellenwert der Einschränkungen anders erlebt werden kann. Sie sagen, sie haben solche Gedanken bereits im Kopf, aber die konnten Ihr Herz noch nicht erreichen: ich wünsche Ihnen sehr, dass die Gedanken ihren Weg ins Herz finden.Moderator Kerstin Boger: Der Chat wird nun geschlossen. Ich wünsche Ihnen Frau Strittmatter und allen anderen Beteiligten noch einen schönen Abend!  

 

Redaktion: AMSEL e.V., 25.09.2006