Eskalationstherapie

Noch bis Weihnachten hätten wir weiterchatten können, so schien es fast, am Dienstagabend, 16.11.04, beim ExpertenChat mit Prof. Erich Mauch.

Moderator Patricia Fleischmann: Hallo, liebe Chatter, hallo lieber Experte! "Friert im November zeitig das Wasser, wird's im Januar um so nasser" besagt eine Bauernregel. Da kommt ja noch etwas auf uns zu! Machen wir es uns einstweilen am PC gemütlich: Professor Erich Mauch beantwortet heute Abend Ihre Fragen zur Eskalationstherapie. - Der Chat ist geöffnet!

Vorab-Frage 1: Guten Abend Herr Prof. Mauch, meine Frau spritzt seit 4 Jahren Copaxone, und hatte hiervon die ersten 3 Jahre einen eigentlich guten Erfolg mit "nur" 2 Schüben. Im letzten Jahr waren es dann aber wieder insgesamt 5 Schübe. Der letzte Schub war dann noch ziemlich stark. Unser Vertrauen ins "Cop" ist eigentlich nun erloschen. Die Schübe bzw. deren Einschränkungen haben sich immer nach einer Cortison-Stoßtherapie zu 90% zurückgebildet. Als Eskalationstherapie ist uns jetzt Mitoxandron empfohlen worden. Medikamente wie Azathiopren, Avonex und Rebif wurden alle schon in den Jahren zuvor ohne größern Erfolg bzw. mit Verschlechterungen versucht. – Gibt es nun nur noch diese eine Variante oder noch Alternativen und gibt es bei Mitoxandron die Möglichkeit auszusteigen und ggf. in einem Jahr auf das Antigren (Serono) zu wechseln? – Vielen Dank im Voraus!

Prof. Erich Mauch: Auch ich habe den Eindruck, dass die Wirkung von COP bei Ihrer Frau nicht mehr ausreichend ist. Als Alternative - im Sinne der Eskalationstherapie - könnnte auch ich mir Mitoxantron vorstellen. Dabei sollte zunächst der Schub mit hoch-dosiertem Prednisolon über 3-5 Tage behandelt werden (wie Sie beschreiben) und danach könnte man zur Schubprophylaxe bzw. zur Verhinderung weiterer Krankheitsprogression durchaus Mitoxantron einsetzen. Den Therapiebeginn sollte allerdings ein mit dieser Behandlung erfahrener Kollege/ Kollegin übernehmen.

Claudi: Hallo Herr Mauch. Was genau versteht man unter Eskalationstherapie?

Prof. Erich Mauch: Man versteht darunter das Umsteigen auf eine "intensivere" evtl. auch "risikoreichere" Therapie bei MS-Patienten, wenn die bisherige Therapie nicht effektiv war. z.B. Umstellen der Medikation von Copaxone auf ein Interferonpräparat oder von Interferon auf Mitoxantron.

Claudi: Heißt das, dass Copaxone das "harmloseste" Medikament ist?

Prof. Erich Mauch: Bei der Mehrzahl der Patienten vermutlich ja. Allerdings kenne ich MS-Kranke, die erhebliche lokale Nebenwirkungen der täglichen Injektionen haben (schmerzhafte Rötungen, Schwellungen, Juckreiz), selten treten auch anfallsweises Herzklopfen mit Schweißausbrüchen und Gefühlen, wie vor einer Ohnmacht, auf, was die Patienten derart beunruhigt, dass sie die Behandlung abbrechen.

Regina: Guten Abend Prof. Mauch. Ab wann empfiehlt sich eine Umstellung auf ein stärkeres Medikament?

Prof. Erich Mauch: Wenn die Zahl der Schübe nicht deutlich zurück geht (vor allem der Schübe mit unvollständiger Rückbildung der Schubsymptomatik) und wenn die Krankheitssymtome weiter fortschreiten, die Behinderung entsprechend zunimmt. In Dietenbronn wechseln wir die Therapie auch bei relevanter Zunahme der Herde in der Kernspintomographie bzw. wenn die Kontrastmittel-aufnehmenden Herde nicht verschwinden.

Vorab-Frage 2: Ich hätte gern gewußt, ob der Haarausfall bei einer gering dosierten Dosis Mitoxantron aller 6 - 8 Wochen, die ich schon seit Anfang 2004 mache, irgendwann wieder nachläßt? Infusionen bei Dr. Gottwald in Stuttgart. Sonst erwäge ich einen Therapie-Abbruch?

Prof. Erich Mauch: Ich befürchte, dass bei der Gabe von Mitoxantron alle 6-8 Wochen der Haarausfall nicht nachlassen wird. Wir wählen deshalb Behandlungsintervalle von 3 Monaten (in der Regel). Sicher ist, dass sich nach dem Ende der Mitoxantronbehandlung der Haarwuchs wieder völlig normalisiert.

Vorab-Frage 3a: Hallo, ich habe seit ca. 3 1/2 Jahren eine primär chronisch progrediente MS. Im letzten Jahr und dieses Frühjahr habe ich eine Cortison-Stosstherapie erhalten. Diese Therapie hat jedoch keine positiven Auswirkungen gehabt.

Prof. Erich Mauch: Leider entspricht dies auch meinen Erfahrungen, dass die chronisch progrediente MS (sowohl primär als auch sekundär chronisch progredient) nur sehr schlecht auf Kortikosteroide anspricht. Hier ist die Domäne aus meiner Sicht die Immunsuppression, evtl. auch noch Betaferon, um weitere Progredienz zu verhindern.

Vorab-Frage 3b: Ich hatte vielmehr unheimlich Probleme mit den Nebenwirkungen des Cortisons zu kämpfen. - Was können Sie mir alternativ empfehlen?

Prof. Erich Mauch: Leider ist das Kortison bei der Therapie von Krankheitsschüben (hoch-dosiert über 3-5 Tage) das Mittel der ersten Wahl, das fast konkurrenzlos ist. Beispielsweise bei Schwangerschaften (absolute Kontraindikation von Kortison) oder bei gravierenden Nebenwirkungen können alternativ Immunglobuline gegeben werden (z.B. Venimmun/Polyglobin/Octagam, u.a., 20 g täglich über 5 Tage). Die Immunglobuline haben, bis auf ein letzlich nicht ganz auszuschließendes Infektionsrisiko, keine wesentlichen Nebenwirkungen (bei vorschriftsmäßiger Verabreichung).

Siegfried: Guten Abend Herr Prof. Mauch, was ist Ihrer Meinung nach von dem neuen Medikament Antegren zu erwarten auch im Hinblick auf den sekundär-chronischen Verauf

Prof. Erich Mauch: Ich habe erst letzten Freitag die neuesten Daten zu Antegren von Herrn Dr. Ulrich, Fa. Biogen gehört. Dabei bezogen sich alle Informationen auf den rein schubförmigen Krankheitsverlauf. Ich denke, dass zum sekundär-chronisch progredienten Verlauf noch gar keine Daten vorliegen, da sämtliche derzeit laufenden Untersuchungen bei Patienten mit noch niedrigem Behinderungsgrad und rein schubförmigem Verlauf unternommen wurden. Antegren an sich ist nach meiner Einschätzung wirklich sehr erfolgversprechend.

Sarah-Tonia: Nach welchem Zeitraum sollte die Wirkungsweise der Therapie überprüft werden? Ich habe die Diagnose Ende September erhalten und spritze seit Oktober Copaxone. Ich möchte jetzt wissen, nach welchem Zeitraum eine Überprüfung erfolgen sollte. Kann man die Wirkungsweise nur im MRT feststellen? Oder geht man da auch nach der Anzahl der Symptome?

Prof. Erich Mauch: Ich würde bei Ihnen die erste Kontrolluntersuchung bereits nach 6 Monaten vornehmen (klinisch-neurologische Untersuchung + Kernspintomographie). Bei stabilem Verlauf (d.h. keine weiteren Verschlechterungen/ keine neuen Symptome) genügt wohl auch eine erste Kontrolle nach einem Jahr, zumal die Wirkung von COP oft erst nach 6 Monaten einsetzt (Aussage der Firma TEVA).

Werner: Guten Abend, Herr Professor Mauch, mich interessiert inwieweit spielt die Höhe der Einzeldosis bei einer Mitoxantron-Therapie eine Rolle?

Prof. Erich Mauch: Die Einzeldosis beim Mitoxantron ist verantwortlich für das Ausmaß der gewünschten Immunsuppression (= Unterdrückung vor allem der auto-aggressiven B-Zellen im Blut). Allerdings hängen auch die Nebenwirkungen proportional mit der Dosishöhe zusammen. In unserer Klinik verabreichen wir den Patienten in der Regel im ersten Behandlungsjahr 20 mg Mitoxantron einmal pro Quartal und im zweiten Behandlungsjahr 10 mg Mitoxantron pro Quartal (ergibt eine kumulative Gesamtdosis von 120 mg). Nach jeweils einem Jahr kontrollieren wir den Behandlungserfolg kernspintomographisch.

Werner: Wenn eine Behandlung mit Mitoxantron keinen Erfolg zeigt, heißt dass für den Patienten "austherapiert"?

Prof. Erich Mauch: Aus meiner Sicht nein. Allerdings begibt man sich bei Erfolglosikgkeit von Mitoxantron unter der Standardgabe auf wissenschaftlich nicht mehr abgesichertes Terrain, wenn man weitere Behandlungen unternimmt. Wir haben in Dietenbronn beispielsweise die Behandlungsintervalle von Mítoxantron verkürzt (auf 6 Wochen anstatt 3 Monate) und in Einzelfällen mit Immunglobulinen kombiniert (erste kleine Veröffentlichungen zeigten durchaus positive Resultate). Allerdings gibt es beim Einsatz von Immunglobulinen bei der MS zunehmend größeren Widerstand seitens der Kassen.

Werner: Haben Sie in Dietenbronn Erfahrungen mit dem Einsatz von Gabapentin bei zunehmender Spastik in Armen und Beinen?

Prof. Erich Mauch: Nein. Ich habe auch theoretische Vorbehalte, Gabapentin bei der Spastik einzusetzen. Gabapentin bremst gerade beim Krankeitsbild MS nicht unerheblich die zentrale Nervenleitung, was zur Verschlechterung anderer Symptome (v.a. Sprechen, Schlucken, Feinmotorik) führen kann. Zur Reduktion der Spastik gibt es andere, m.E. bessere Möglichkeiten. Gabapentin geben wir nur bei neuralgischen Schmerzen (z.B. Trigeminusneuralgie).

Sarah-Tonia: Copaxone harmlos hört sich gut an - aber ist es im Vergleich zu den anderen Therapien auch ausreichend wirksam?

Prof. Erich Mauch: Ob Copaxone (oder andere Medikamente) bei der MS wirksam sind, mache ich stets am einzelnen Patienten fest. D.h. ich erwarte im Verlauf der Therapie, dass die Krankheitssymptome nicht relevant zunehmen und dass auch die Befunde der Kernspintomographie stabil bleiben und keine Hinweise auf eine frische Krankheitsaktiviät zeigen. Es gibt sicher viele Patienten, die unter der Behandlung mit Copaxone diese Kriterien erfüllen - und dann ist es OK.

Werner: Meine starke Spastik wird derzeit - allerdings mit wenig Erfolg - mit täglich 16 mg Sirdalud und 40 mg Lioresal in sieben Einzeldosen sowie 3 x 300 mg Gabapentin therapiert. Gibt es hierzu noch Alternativen?

Prof. Erich Mauch: Für Sie könnte ich mir eine Behandlung Ihrer Spastik mit intrathekal verabreichtem Triamcinolon (40-80mg) vorstellen. Dabei nehmen wir eine "Nervenwasserpunktion" lumbal vor, nehmen etwas Liquor ab und injizieren dann 40 mg Triamcinolon (=Kortison-Kristallsuspension) ins Nervenwasser. Daraufhin erreichen wir bei ca. 80% der so behandelten Patienten eine deutliche Reduktion der Spastik in den Beinen, so dass wir die antispastisch wirksamen Tabletten reduzieren können (mit der Folge einer verbesserten Rumfstabiliät). Die Injektionen können mehrmals wiederholt werden. Die Nebenwirkungen der Behandlung entsprechen den Nebenwirkungen der Lumbalpunktion.

Werner: Seit der Einnahme von Gabapentin habe ich eine Verschlechterung beim Sprechen und beim Schlucken festgestellt. Wenn ich Gabapentin absetzen will, ist es ratsam auszuschleichen oder einfach mit der Einnahme aufzuhören?

Prof. Erich Mauch: Genau dies entspricht meinen Erfahrungen bei anderen Patienten. Da Gabapentin einen hemmenden Einfluss auf die Nervenzellen ausübt, der mit der Höhe des Blutspiegels korreliert, muss das Medikament langsam ausgeschlichen werden. Ein zu rasches Abfallen des Blutspiegels könnte schlimmstenfalls zu Krampfanfällen führen. Übrigens sollte man alle antispastisch wirkenden Medikamente sehr langsam ausschleichen und auch keine großen Dosissprünge unter der Therapie machen.

Dietmar: Welche Hoffnung setzen Sie auf das sich in der Phase 3 befindenden Antegren im Bezug auf Alternative zu den Interferonen und Cop?

Prof. Erich Mauch: In den vorliegenden Studien konnte die Schubfrequenz unter Behandlungen mit Interferonen oder Copaxone um ca. 30 % reduziert werden. Die Fa. Biogen behauptet nun, durch Antegren eine Schubreduktion von 60 % unter der noch laufenden Studie zur Zulassung erzielt zu haben. Deshalb hat die Firma auch in Amerika (bei der FDA) die vorzeitige Zulassung noch vor Studienende beantragt. Dies bedeutet, dass Antegren vermutlich eine sehr interessante und vielversprechende Substanz in der Palette der bereits vorhandenen Präparate mit nachgewiesener Wirksamkeit werden wird. Allerdings habe ich noch sehr wenig über die zu erwartenden Nebenwirkungen der Substanz gehört, vor allem was eine Langzeitgabe anbelangt.

Dietmar: Entschuldigung: Erst mal einen schönen guten Abend Prof. Mauch.

Prof. Erich Mauch: Auch Ihnen einen guten Abend. Ich freue mich sehr über Ihr Interesse - das Beantworten der Fragen macht mir Spass.

Jürgen: Leide seit 1995 an "MS"! Nach dem Absetzen von "Avonex" ziehe ich jetzt die Chemotherapie (22.11.04) nächster Termin in Ihrem Haus! Avonex bereits nach Rücksprache mit meinem Neurologe (Prof. Mauch/ Ulm) abgesetzt! Zustand nicht besser, wäre dieses eine Alternative für mich?

Prof. Erich Mauch: Ich bin nicht ganz sicher, ob ich Ihre Frage richtig verstanden habe. Wenn wir bei Ihnen Avonex abgesetzt haben, um am 22.11.04 mit Mitoxantron zu beginnen, so ist dies sicher OK. Die Erwartung nach Umsetzen der Therapie besteht darin, Ihren Zustand langsam wieder zu verbessern (in Kombination mit einer optimalen Physiotherapie).

Dietmar: Gibt es bei Mitoxandron Erfahrungen mit der Dauer der Verabreichung oder wird nur auf die Lebensdosis hin die Dosen verabreicht.Bei den Interferonen spricht man im Moment noch von lebenslang spritzen und bei Mitoxandron.

Prof. Erich Mauch: Es besteht allgemein Übereinstimmung, dass Mitoxanton nur bis zu einer kumulativen Gesamtdosis von 140 mg/ qm Körperoberfläche pro Patient verabreicht werden soll (dies entspricht in etwa 260 mg pro Patient). Wir haben wenige Patienten, die deutlich höhere Dosen erhalten haben (weil andere Behandlungen nicht wirksam waren); diese Weiterbehandlungen - unter strengsten Kontrollen der Herzfunktion - sollten aber nur von erfahrenen Zentren durchgeführt werden. Wie lange man Mitoxantron insgesamt verabreichen kann ist momentan noch völlig unklar.

Werner: Vielen Dank an Herr Professor Mauch für die Beantwortung der Fragen und an Frau Fleischmann für die Moderationen! Ich wünsche noch einen schönen Abend!

Moderator Patricia Fleischmann: Ebenso einen schönen Abend an Sie, Werner!

Moderator Patricia Fleischmann: Können Sie abschätzen, wann Antegren in Deutschland zugelassen wird?

Prof. Erich Mauch: Auch ich danke allen Teilnehmern für ihr Interesse und Frau Fleischmann für die souveräne Moderation. Übrigens an Frau Fleischmann: Mit der Zulassung von Antegren in Amerika rechnet die Herstellerfirma Anfang 2005. Über den Zeitpunkt der Zulassung in Europa gibt es nach meinem Wissensstand noch keine exakteren Vorstellungen. Auch ist noch nicht ganz klar, in welchem Umfang man Antegren über eine internationale Apotheke aus USA beziehen können wird.

Jürgen: Herr Prof. Mauch, ich komme jetzt so meine schon das 3. oder vierte Mal zur Chemo nach Dietenbronn, seit dem Absetzen von Avonex! Schönen Abend, auf Wiedersehen und dankeschön!

Moderator Patricia Fleischmann: Und jetzt einen schönen Abend an alle Chatter und Interessierte! Prof. Mauch, dem ich ganz herzlich danke, wird die offenen Fragen noch beantworten. Für heute ist der AMSEL-Chat geschlossen, doch am 7. Dezember geht es weiter mit unserem Thema "MS und Familie" - schaun Sie wieder rein!

Redaktion: AMSEL e.V., 17.11.2004