Der virtuelle Patient

01.06.04 - Expertenchat mit Dr. Martin Daumer zum Thema 'Der virtuelle Patient'.

Moderator Patricia Fleischmann: Einen wunderschönen guten Abend an alle Chatter! Der "virtuelle Patient" heißt unser Thema heute und ich darf dazu Dr. Martin Daumer vom Sylvia Lawry Center in München begrüßen. Dr. Daumer ist DER Experte für alle Fragen zum virtuellen Patienten. - Der Chat steht ab jetzt offen!

Birgit: Hallo Dr. Daumer. Mich interessiert, welche Vorteile der virtuelle Patient mit sich bringt.

Dr. Martin Daumer: Der "virtuelle Patient" bringt eine Reihe von Vorteilen mit sich, je nachdem aus welcher Sicht man ihn betrachtet. Wenn virtuelle Patienten in zukünftigen klinischen Studien eingesetzt werden können, müssen weniger Patienten mit Placebos behandelt werden und es dauert nicht so lange, bis neue, bessere Medikamente zugelassen werden. Das ist auch für die Firmen, die die Medikamente herstellen ein Vorteil. "Virtuelle Patienten" die der behandelnde Neurologe in seinem Browser abrufen kann können ihm helfen, evidenzbasiert Entscheidungen über die besten Therapieoptionen zu treffen. Wir nennen diese Anwendung das "Individual Risk Profile". Weiterhin könnten Gutachter von wissenschaftlichen Journals Fachartikel auf Plausibilität überprüfen, Zulassungsbehörden könnten die Informationen über das wahscheinliche zukünftige Verhalten von Patientengruppen bei Zulassungsentscheidungen verwenden und Pharmafirmen könnten solche Informationen zur besseren Planung der klinischen Studien nutzen.

Birgit: Das heißt, der virtuelle Patient kann einen Teil der echten Patienten ersetzen, aber nicht alle, wenn ich das richtig verstanden habe. - Wie kreieren Sie denn den virtuellen Patienten? Und wie weit sind Sie damit?

Dr. Martin Daumer: Zu ihrer ersten Frage: wir sehen die Ersetzung von "echten" Plazebopatienten als stufenweisen Prozess. Zunächst muß gezeigt werden, daß man mit unseren Methoden und Daten zu ähnlichen Ergebnissen gekommen wäre, wie bei der Verwendung von "echten" Placebopatienten. Dazu brauchen wir Placebodaten und Informationen über die behandelten Patienten von einigen durchaus bereits durchgeführten klinischen Studien. Im nächsten Schritt könnte ein Teil der Placebopatienten durch Patienten aus der Datenbank ersetzt werden - zunächst voraussichtlich vor allem in sogenannten "Phase II" Studien, Studien also, die noch nicht zur Zulassung führen. In einem weiteren Schritt wird sich zeigen, ob man unter bestimmten Voraussetzungen auch völlig auf Placebopatienten verzichten kann, also ein rein "einarmiges" Design verwenden kann. Zu ihrer zweiten Frage: wie eingangs erwähnt, gibt es eine Reihe von Blickwinkeln, unter denen man das Konzept des "virtuellen Patienten" sehen kann. Verwendet man ihn im Rahmen von klinischen Studien, gibt es mehrere Möglichkeiten, z.B.: man kann sich zu vorgegebenen Ein- und Ausschlußkriterien Patienten aus der Datenbank als Kontrollgruppe herausfiltern und diese ggf. adjustieren, man kann zu jedem einzelnen Patienten einen virtuellen Zwilling suchen, "matched pair", oder man kann mit mathematischen Formeln versuchen vorherzusagen, wie der wahrscheinliche Verlauf einer Patientengruppe sein wird und wie groß die Unsicherheit dieser Vorhersage ist. Verwendet man den virtuellen Patienten im Zusammenhang mit dem "Individual Risk Profile" nutzt man das Internet, usernamen und Passwort und kann sich nach Angabe von bekannten prognostischen Faktoren, also Alter, Dauer der Erkrankung, Anzahl der Schübe im letzten Jahr, Krankeitstyp (schubförmig, sekundär progredient, primär progredient) einen Überblichk verschaffen, wie sich alle anderen Patienten in der Datenbank, die die selbe Ausgangslage hatten, im Verlauf der Zeit entwicklt haben. Und nun zur dritten Frage: Wir haben für Phase II und Phase II Studien Methoden zur teilweisen Ersetzung von Plazebopatienten fertig entwickelt und in Simulationen überprüft. Derzeit sind wir in Verhandlung mit mehreren Firmen, um an die zu unseren Placebodaten gehörigen Behandlungsdaten zu gelangen, mit denen wir den nächsten Schritt der Validierung durchführen können. Dies ist leider ein etwas mühsamer Prozess, aber es ist auch verständlich daß mit diesen Daten sehr vorsichtig umgegangen werden muß. Mit der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA haben wir Telefonkonferenzen und ein Treffen in Washington durchgeführt und haben sehr positive Reaktionen erhalten. Ein Treffen mit dem europäischen Pendant, der EMEA, ist für diesen Herbst geplant. Das "Individual Risk Profile" ist in einer ersten Version fertig entwickelt und wurde als Prototyp auf der 50-Jahr-Feier der DMSG in Berlin vorgestellt. Hausintern wird es von unseren Forschern bereits genutzt. Derzeit werden weitere Optimierungen durchgeführt, so daß man das Verfahren einer breiteren Gruppe von Neurologen zur Verfügung stellen kann. Eine Publikation ist in Vorbereitung und soll noch in diesem Monat bei einer Fachzeitschrift eingereicht werden.

Hans: Guten Abend, Herr Dr. Daumer. Wenn ich richtig informiert bin arbeiten Sie mit statistischem Datenmaterial. Meine Frage lautet nun: Werden diese Daten aktualisiert oder werden sie igrendwann "eingefroren", so dass die Ergebnisse des virtuellen Patienten beispielsweise in 15 Jahren mit alten Daten erzielt würden?

Dr. Martin Daumer: Vielen Dank für die sehr wichtige Frage - wie die vorhergehenden Fragn übrigens auch! In einer ersten großen Anstrengung haben wir zunächst alle wichtigen klinischen Studien der letzten 10-15 Jahre und Daten aus Registern und akademischen Forschungszentren zusammengetragen. Die Daten aus den klinischen Studien sind eingefroren - sie liegen ja in dieser Form auch den Zulassungsbehörden vor - und können nicht aktualisiert werden. Deswegen sind wir bestrebt, von wichtigen neuen Studien, wenn sie abgeschlossen sind, ebenfalls die Daten zu erhalten. Wir sind in einer Reihe von laufenden Phase II Studien über das Data Safety und Monitoring Board involviert und werden die Daten als Gegenleitung am Ende der Studie erhalten. Bei den Daten, die wir z.B. aus dem EDMUS-System erhalten oder von der Gruppe von Roy Beck, erhalten wir jährliche updates.

Birgit: Können Sie bereits abschätzen, wann der virtuelle Patient zum Einsatz kommt, wann er tatsächlich Placebo-Patienten ersetzen wird?

Dr. Martin Daumer: Wir denken, daß noch in diesem Jahr virtuelle Patienten im Rahmen des "Individual Risk Profile" breiter verwendet werden können, insbesondere von Neurologen und Forschergruppen mit Fokus Multiple Sklerose. Etwas länger wird es im Zusammenhang mit klinischen Studien dauern. Wir gehen davon aus, daß es in etwa zwei Jahren so weit sein kann, daß in einer klinischen Studie durch Nutzung unserer Datenbank und unserer Methoden die Zahl der tatsächlich benötigten Plazebopatienten deutlich veringert werden kann. Es ist derzeit noch offen, ob durch mathematische Modellinerung hinreichend genau der Verlauf prognostiziert werden kann, so daß in Zulassungsstudien (Phase III) völlig auf "echte" Kontrollpatienten verzichtet werden kann.

Birgit: Wie kann man als MS-Betroffener ihr Projekt unterstützen?

Dr. Martin Daumer: Hier gibt es mehrere Möglichkeiten: Sie können die Information weiter verbreiten, daß in München ein Gruppe von Mathematikern, Statistikern, Informatikern und Medizinern sich ausschließlich dem Problem der MS-Forschung gewidmet hat und versucht Methoden zu entwicklen, mit denen bessere Therapieoptionen schneller zur Verfügung gestellt werden können. Dafür brauchen wir brillianten Nachwuchs, dem wir in München hervorragende Forschungsmöglichkeiten bieten können. Sie können auch Personen mit politischen Einfluß dazu bewegen, die Rahmenbedingungen weiter zu verbessern, so daß noch mehr internationale Investoren gewonnen werden können. Und Sie können potentielle Spender dazu bewegen, das doch in vielerlei Hinsicht einmalige internationale Zentrum finanziell zu unterstützen, denn gute Forschung kostet leider auch viel Geld. Und sie können versuchen darauf hinzuwirken, daß dem Zentrum möglichst alle neu entstehenden Daten zu Forschungszwecken zur Verfügung gestellt werden (wenn sie zufällig entsprechende Kontakte haben sollten).

Hans: Ist dieses Konzept "virtueller Patient" eigentlich neu? Findet es auch außerhalb der MS Anwendung?

Dr. Martin Daumer: Das Konzept des virtuellen Patienten ist wohl vergleichsweise neu. Es ist sicher schon an verschiedenen Stellen daran gedacht worden, große Datensammlungen zur Optimierung der Therapieforschung zu nutzen aber es ist meines Wissens noch nirgends sonst eine ähnlich konsequente Anstrengung unternommen worden, die Grundidee zu einem tragfähigen Konzept zu entwickeln, Und da gehört einiges dazu: Bildung einer international anerkannten Gruppe von Medizinern, die die Vision teilen (unser "Scientific Oversight Committee"), Machbarkeitsuntersuchung, die zeigen soll, ob überhaupt genügend Firmen bereit wären, ihre Daten solch einem Forschungszentrum zu überlassen, Überzeugung eines internationalen Sponsors, so ein Projekt zu finanzieren (MSIF), internationale Ausschreibung und Auswahl der geeigneten Kandidaten (TU München und Trium Analysis Online - ab da kamen wir erst ins Spiel), Eintreibung der Daten und Aufbau eines Forscherteams etc etc. In diesem Sinne ist das Konzept "neu". Es ist uns nicht bekannt, daß in einem anderen Krankheitsgebiet eine ähnlich ausgerichtete Aktivität durchgeführt wird, wären aber sehr interessiert daran, da man auf alle Fälle voneinander lernen kann. Wir planen auch, unsere Erkenntnisse und Methoden anderen verwandten Krankheitsfeldern zugute kommen zu lassen, z.B. bei anderen neurologisch degenerativen Erkrankungen wie Parkinson und Alzheimer. Große Datensammlungen, insbesondere auch mit einem Fokus auf genetische Aspekte, werden teilweise firmenintern aufgebaut, teilweise entstehen sie im Rahmen von großen EU-Projekten (z.B. Bloodomics, www.bloodomics.org im Bereich kardiovaskuläre Erkrankungen).

Birgit: Mich als medizinischen Laien fasziniert ihr Projekt und ich würde gerne weiter verfolgen, wie es sich entwickelt. Wie komme ich denn an Informationen zum virtuellen Patienten?

Dr. Martin Daumer: Vielen Dank für Ihr Interesse. Bitte besuchen Sie unsere Website "www.slcmsr.org". Falls Sie updates per email/Post erhalten wollen schreiben Sie bitte eine mail an "info@slcmsr.org". Ich wünsche noch einen schönen Abend.

Moderator Patricia Fleischmann: Da schließe ich mich an! Und freilich werden wir auch auf amsel.de weiterhin über den virtuellen Patienten berichten!

Moderator Patricia Fleischmann: Liebe Chatter, lieber Dr. Daumer, es ist gleich halb neun und damit Zeit, den AMSEL-Chat für heute zu schließen. Ich bedanke mich bei allen, die mitgemacht haben und ganz besonders natürlich bei Dr. Daumer für seine geduldigen und ausführlichen Antworten! - Schauen Sie doch wieder rein: Jeden ersten und dritten Dienstag im Monat ab 19.00 steht unser Chat für alle Interessierten offen!

Redaktion: AMSEL e.V., 25.09.2006