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Angehörigenchat für Kinder von MS-Erkrankten

Es hilft oft, zu sagen: "Ich wünsche mir für Dich so sehr", als zu diskutieren, was richtig oder falsch ist, so Dr. Martin Meier im Multiple-Sklerose-Chat der AMSEL.

Moderator Patricia Fleischmann: Liebe Chatter, liebe Angehörige von MS-Erkrankten, heute antwortet Dr. Martin Meier als Neurologe und Psychiater auf Ihre Fragen. Um 7 geht's los, Sie können aber gern schon mal Ihren Beitrag posten!

Dr. Martin Meier: Hallo, liebe Chatter, einen schönen Abend wünsche ich aus dem sonnigen München, aber wahrscheinlich scheint auch bei Ihnen (noch) die Sonne. Vielen Dank der AMSEL und vor allem Ihnen Frau Fleischmann für die Einladung zu meinem (ersten, darf man heutzutage wahrscheinlich gar nicht sagen) Chat im Internet. Ich freue mich auf Ihre Fragen.

Dr. Martin Meier

Psychiater und Neurologe

  • 2006 Facharzt für Neurologie
  • seit 7/2005 Kombinierte neurologisch-psychiatrische Spezialstation
  • seit 7/2002 Marianne Strauss Klinik in Kempfenhausen, Fachklinik für Multiple Sklerose Kranke
  • 2002 Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
  • 1993 – 2002 Bezirkskrankenhaus Haar (heute Isar-Amper-Klinikum München-Ost)
  • 2001 Promotion am Institut für Psychosomatische Medizin der TU München
  • Bezirkskrankenhaus Haar (heute Isar-Amper-Klinikum München-Ost)
    2001 Promotion am Institut für Psychosomatische Medizin der TU München
  • Video zu "Depressionen und Multiple Sklerose" mit DMSG / AMSEL

Freya: Also, ich bin 16 Jahre alt und habe selbst MS.Ich mache gerade meinen Abschluss und danach würde ich eigendlich gern in eine andere Stadt ziehen um dort weiter zu machen, da dort das angebot besser ist. Meine Familie könnte aber nicht mit, wegen deren Arbeit und weil meine Schwester noch hier Schule fertig machen möchte. Meine Eltern wollen mich aber nicht alleine gehen lassen, weil sie meinen ich wäre zu jung und mit der Krankheit wäre das fahrlässig von ihnen. Ich kann das nicht nachvollziehen. Mir geht es ja gut und ich möchte mir eben solang ich jung bin und es mir gut geht meine Zukunft aufbauen. Vielleicht können sie mir ja helfen?

Dr. Martin Meier: Hallo, Freya, das ist tatsächlich eine schwierige Frage. Aber vielleicht sind es 2 Fragen bzw. 2 Probleme, die Sie mit Ihrer Familie haben. Da ist einerseits die MS mit all ihren Unwägbarkeiten und Unsicherheiten und dem (verständlichen) Wunsch Ihrer Eltern, in Ihrer Nähe zu sein und ggf. zu helfen. Andererseits sind Sie mit 16 (ebenso verständlich) "auf dem Sprung in die Welt" und allein das ist für Eltern alles andere als leicht. Ich habe schon einige Pat. und Familien erlebt, die vor diesen Schwierigkeiten standen. Und wo es zu einer Vermischung dieser beiden Dinge gekommen ist, die es nicht nur leichter gemacht hat. Es ist sehr schwer, diese beiden - zuerst einmal überhaupt nicht miteinander verbundenen Problemfelder - jedes für sich zu lösen, gerade für Sie als junge Frau. Und für Ihre Familie erst recht. Vielleicht kann helfen, dass Sie alle sich - wenn möglich im Gespräch - zuerst einmal fragen, um welches von beiden Feldern es sich dreht bzw. welches den größeren Stellenwert einnimmt. Und ganz praktisch: vielleicht ziehen Sie ja zuerst nicht gerade nach Timbuktu.

Katja: Hallo zusammen! Dann fang ich mal an: Meine Mutter hat den schubförigen Verlauf, ignoriert aber immer wieder alle Anzeichen eines Schubs und geht nicht zum Arzt. Was kann oder soll ich da als Tochter machen? Cortison würde doch das Ausmaß der bleibenden Behinderungen eingrenzen, oder?

Dr. Martin Meier: Hallo, Katja, Sie schildern eine Problematik, die so viele Kinder von MS-Betroffenen haben. Sie würden so gerne etwas für ihre Eltern tun bzw. wünschen sich, dass die sich um die Symptomatik/den Schub kümmern, so dass nichts zurückbleibt. Medizinisch haben Sie sicher in den meisten Fällen recht, dass eine adäquate Schubbehandlung (z.B. mit Cortison) sinnvoll wäre. Psychologisch ist die Sache aber oft etwas anders und da liegen häufig Probleme: wer trägt für den Umgang mit der Symptomatik die Verantwortung, Sie oder der Patient? Eigentlich doch Ihre Mutter. Das ist aber - das verstehe ich sehr gut - schwer auszuhalten, wenn man, so wie Sie es schildern "zuschauen muß". Es klingt komisch, aber die Betroffenen haben immerhin die MS, während die Angehörigen gar nichts haben, als Ihre Sorge und das konfrontiert-Sein mit der Symptomatik des Gegenüber und ihre (meist emotionale) Reaktion. Was Sie tun können ist, dass Sie Ihrer Mutter sagen, was Sie sich wünschen würden für sie, nicht was sie tun soll, was "richtig" wäre etc., denn bei letzterm macht sie wahrscheinlich zu. Es hilft oft, zu sagen: ich wünsche mir für Dich so sehr ...., als zu diskutieren, was richtig oder falsch ist.

Freya: Hmm ja das ist alles bisschen Kompliziert, da meine Eltern nichtmal zu einem richtigen Gespräch bereit sind. Ich hör immer nur solange du 16 bist haben wir zu entscheiden. Ich habe das Gefühl das sie mir nichtsmehr zutrauen, da ich auch immerwieder höre das ich für die und die Dinge nicht die "Vorraussetzungen" erfülle (durch MS). Das machts halt schwer für mich da ich eigentlich nichts mehr möchte als mein Leben eigenständig führen zu dürfen. Klar ich bin erst 16 aber ich weiß was es heißt Verantwortung zu übernehmen.. danke

Dr. Martin Meier: Ja, kompliziert ist da wohl das richtige Wort. Ich habe es oft erlebt, dass in Familien die Konflikte des Erwachsen-Werdens der Kinder ausgetragen werden mit der MS als Druck- oder Drohmittel, meistens geschieht das unbewusst und nicht aus bösem Willen oder mit Absicht. Das geht natürlich in beide Richtungen (ich kenne auch Kinder, die Druck auf Ihre Eltern ausüben über die MS). In Ihrem Fall wäre es aber möglich, dass ihre Eltern neben dem Hinweis auf Ihre fehlende Volljährigkeit auch die MS in den Ring werfen; so scheinen Sie es zumindest zu erleben. Auch stellt sich die Frage, warum Ihre Eltern ihrer Meinung nach nicht zu einem Gespräch bereit sind. Ganz praktisch: versuchen Sie es - trotzdem - weiter, ins Gespräch zu kommen, vielleicht haben Sie ja jemanden, den Sie als Unterstützung mitnehmen können in so ein Gespräch (Freudin, Freund, Geschwister, Onkel ...); es gibt auch Beratungsstellen, nicht zuletzt auch bei der DMSG. Und was sicher auch hilft - und da können Sie die MS benutzen - ist, dass Sie ihren Eltern einen "verantwortungsvollen" Umgang mit der Erkrankung demonstrieren, das beeindruckt sie bestimmt und ist eine gute "Verhandlungsgrundlage".

Moderator Patricia Fleischmann: @ alle Chatter aus Baden-Württemberg: Weil Dr. Meier es gerade anspricht, hier mal der Hinweis auf unsere psychologische Beratung für MS-Betroffene aus dem Ländle: beratungsteam@amsel.de heißt die Adresse. Sie können auch gern einen Gesprächstermin telefonisch oder vor Ort in Stuttgart vereinbaren.

Moderator Patricia Fleischmann: @ alle Chatter aus den übrigen Bundesländern: Informationen gibt es über die Telefonhotline des Bundesverbandes: 01805 / 777 007

Katja: Noch eine Frage, vielleicht eher medizinisch: Meine Mutter hat MS-bedingt auch Probleme mit der Blase. Anstatt viel zu trinken, damit keine Entzündungen kommen, trinkt sie so wenig wie möglich, damit sie weniger oft muss. Und sie geht immer weniger raus, aus Angst vor "Unfällen". Wie kann man Blasenstörungen zuverlässig behandeln, so dass sie wieder ganz normal am Leben teilhaben kann?

Dr. Martin Meier: Manche Patienten haben auch wenn Sie in die Stadt gehen, eine feste Route, wo sie jede Toilette kennen. Sie schildern eine typische Verhaltensweise, die viele Patienten haben, die an einer neurogenen Blasenstörung leiden. Sie regulieren diese über eine Reduktion der Trinkmenge, was auf lange Sicht - da haben Sie völlig recht - die Sache nicht besser macht. Diese Symptomatik tritt häufig auf und ist auch sehr schambesetzt, d.h. viele Patienten teilen das ihrem Arzt nicht mit; was in diesem Fall umso bedauerlicher ist, da ausgerechnet dieser Symptomkomplex (und ich bin da in aller Regel wirklich vorsichtig mit solchen Aussagen) eigentlich ganz gut behandelbar ist. Nach Abklärung (gynäkologisch, urologisch, neurologisch) gibt man ein blasendämpfendes Medikament, ggf. noch ein die Blasenentleerung erleichterndes zweites dazu. Dann kann man ausprobieren, welches Präparat, welche Dosis die richtige ist etc. und damit erreicht man oft einen guten - und vor allem die Lebensqualität signifikant verbessernden - Behandlungserfolg. Es gibt darüberhinaus unzählige Hilfsmittel, die man bei neurogenen Blasenstörungen empfehlen kann - das wird dann aber ein echt langer Beitrag.

hanna: Hallo! Bei mir hat auch meine Mutter MS. Ich muss zugeben, dass ich selbst nicht viel über die Krankheit weiß. Was ich aber weiß, ist dass auch meine Mutter den schubförmigen Verlauf hat. Ich finde es schrecklich mit ansehen zu müssen, wie sie leidet. An manchen Tagen, da ist sie einfach so schnell erschöpft und klagt über sehr starke Schmerzen in den Beinen, sie hat jetzt letztens auch einen Rollstuhl bekommen und ich habe Angst davor, dass sie bald gar nicht mehr laufen kann. Dagegen ist man halt einfach so machtlos... Ich versuche dann zwar immer zu sagen: "Ach ist doch nicht so schlimm, das wird schon wieder", aber ich glaube, eigentlich weiß ich, dass das halt einfach nicht aufzuhalten ist. Außerdem, wenn ich das richtig verstanden habe, soll bald eine Chemotherapie gemacht werden, ob meine Mutter die aber wirklich macht, steht nicht fest, weil sie bei dem Thema sehr mit sich hadert. Und als ich das Wort "Chemotherapie" gehört hab, war das für mich erstmal ein Schock... Meine Frage: Wie soll ich meiner Mutter gegenübertreten, wenn es ihr so schlecht geht? Also wie soll ich auf sie reagieren?

Dr. Martin Meier: Hallo, Hanna, was Sie schildern, macht mich schon beim Lesen mit betroffen. Wenn ich ehrlich bin, dann kann ich diese Frage unmöglich einfach beantworten. Dazu fehlt mir einerseits viel zu viel Information, zum anderen ist die Antwort in jedem Fall eine sehr persönliche. Medizinisch - um mal so anzufangen - ist das Mitoxantron eine wirklich gut bewährte, tausendfach auch von mir verabreichte Medikation, die in unzähligen Fällen eine Progression der Erkrankung verzögern/aufhalten kann, sodaß ich vielen meiner Patienten bisher dazu geraten habe, wenn die medizinischen Voraussetzungen erfüllt sind. Natürlich gibt es viel Medizinisches zu bedenken, Nebenwirkungen etc. Aber das Mitoxantron ist auch ein "Symbol" für die Schwere der Erkrankung, den Zustand des Pat., so nehmen es viele einfach wahr und fragen sich, "ist es schon so schlimm" usw., was viele lange zögern lässt. Psychologisch - und jetzt vielleicht kurz zu Ihrer Frage - geht es finde ich zuallererst einmal darum, wie es Ihnen mit der Erkrankung Ihrer Mutter geht, was ihre Gefühle sind. Was Ihre Ängste sind, Ihre Befürchtungen. Und dann geht es darum, einen Weg zu finden. Ganz praktisch: ich denke, Ihre Mutter weiss, wie es Ihnen geht. Ihre Mutter will Sie schonen, Sie wollen Ihre Mutter schonen; und vor lauter "der eine denkt darüber nach, was für den anderen gut sein könnte", was "richtig" ist", geht dann das Gefühl verloren. Ohne esoterisch sein zu wollen: wonach ist Ihnen denn, wenn Sie Ihrer Mutter begegnen? Ist ja vielleicht auch nicht immer gleich. Und sie können ihr gern auch erst mal sagen, dass/wie sehr Sie sie mögen. Und vielleicht können Sie ja auch (mal) zusammen traurig sein. Auch hier - es wird wieder richtig lang - gibt es professionelle Hilfe, auch bei/über die DMSG, das ist nämlich ein wirklich richtig großes Thema und Psychotherapeuten haben da viel Erfahrung, auch nur mal zur Beratung.

Moderator Patricia Fleischmann: @ Katja: Schauen Sie doch mal unter amsel.de/video. Dr. Martin Rösener erklärt und zeigt im Film, wie man Blasenstörungen behandeln kann.

Katja: Noch etwas: Meine Mutter ist sehr unzufrieden mit sich, wenn ihre Energie nachlässt. Sie wird unaufmerksam, müde und immer wieder auch gereizt, mehr aus Ärger über sich selbst, dass sie nicht mehr so mithalten kann, obwohl sie grad erst 50 wurde. Wie kann ich damit umgehen, das vielleicht abfedern? Leider sagt sie immer erts sher spät, dass sie nicht mehr kann. Das lässt sich auch nicht vorhersagen, aber ich würde ihr da gern das Leben leichter machen.

Dr. Martin Meier: Das klingt ziemlich nach einer Fatigue-Symptomatik, einer bei der MS häufig auftretenden Problematik. Eine körperlich und auch psychisch gesteigerte Erschöpfbarkeit. Man kann lernen, mit diesem (wie so vielen bei der MS "unsichtbaren") Symptom umzugehen, Stichwort ist Energie management. Es gibt in Krankenhäusern, Rehakliniken oder Praxen Neuropsychologen, die Tests machen und mit den Pat. ein Programm erarbeiten, damit umzugehen, u.a. die Pausen vorher zu machen, bevor sie erschöpft sind. Denn dann dauert die Erholungsphase nicht so lang wie wenn sie über die Grenze gegangen sind. Auf diese Weise vermeidet man auch einen sich selbst verstärkenden Kreislauf, der meist in Frustration oder Ärger mündet. Was Sie für Ihre Mutter tun können ist, ihr dabei zu helfen, zu lernen sich vorher zurückzunehmen. Das würde Ihnen sicher auch helfen. Ihr - über eine krankheitsbedingt selbstverständliche Hilfe/Unterstützung hinaus - etwas abzunehmen, ist in diesem Zusammenhang vielleicht nicht der erste Gedanke, den ich hätte.

Moderator Patricia Fleischmann: Zum Thema Fatigue hält die AMSEL auch eine gute Broschüre parat: den Fatige-Manager. Zu bestellen über www.amsel-shop.de

hanna: Das mit dem Schonen kann sehr gut sein. Dankeschön.

Dr. Martin Meier: Gern geschehen. Das ist aber auch wirklich eine schwierige Situation. Für sie beide. Ich drück Ihnen auf jeden Fall die Daumen und wünsch Ihnen (beiden) alles Gute.

Moderator Patricia Fleischmann: Liebe Chatter, es war eine kleine Runde heute, doch sind die Fragen auch entsprechend komplex. Herzlichen Dank an Herrn Dr. Meier für sein Engagement heute! Ich wünsche allen noch einen schönen Abend und freue mich auf ein Wiederchatten, vielleicht schon am 3. Mai.

Redaktion: AMSEL e.V., 19.04.2011