Hallo, Herr Weihe,
Ihr Vorschlag, zum Thema Cortison mit mir zusammenzuarbeiten, ehrt mich, aber ich glaube nicht, dass es eine gute Idee wäre, wenn Sie Ihr Cortison-Kapitel quasi von mir schreiben ließen.
Erstens können Sie das, was ich dazu weiß, größtenteils selbst in der Fachliteratur nachlesen, wenn Sie wollen, vom Giftpapst Max Daunderer bis zum Cortison-Papst Hanns Kaiser.
Noch dazu haben Sie es viel einfacher als ich, weil Ihnen als Arzt alle Informationen über verschreibungspflichtige Medikamente offen stehen, während ich als Laiin aufgrund des Heilmittelwerbegesetzes dazu keinen Zugang erhalte, denn Werbung für rezeptpflichtige Medikamente ist in Laienkreisen verboten und strafbar.
Auch bei rezeptfreien Mitteln ist bei einer Werbung außerhalb der Fachkreise stets der Text Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker anzugeben (§ 4 Abs. 3 HWG).
Ich muss gewisse Schlupflöcher nutzen, um überhaupt an Informationen über rezeptpflichtige Medikamente zu kommen. Sie als Arzt haben dazu unbeschränkten Zugang und können einfach googeln.
Vieles, was ich sonst über die MSen gelesen habe und was mich überzeugt hat, lehnen Sie ab, und das ist keine Grundlage für gemeinsames Arbeiten. .
Z.B. ist für Sie die NMO keine eigenständige Krankheit, und die PPMS schon zweimal nicht. Damit stehen Sie zwar ziemlich allein auf weiter Flur, aber das ist Ihre Entscheidung, und Sie sind als Ruheständler ja unabhängig.
Ich werde aber nicht an einem Buch mitarbeiten, in welchem bestritten wird, dass die NMO und wahrscheinlich auch die PPMS eigenständige Krankheiten sind. Wenn eine NMO irrtümlich mit MS-Medikamenten behandelt wird, kann sie sich dramatisch verschlechtern.
Deswegen ist die Differentialdiagnose MS - NMO so wichtig! https://nemos-net.de/dateien/dokumente/NEMOS%20Konsensus%20Nervenarzt%202011.pdf - Außer für Sie, denn Sie würden auch keine MS mit MS-Medikamenten behandeln, weil Sie die ja auch ablehnen.
Im Grunde Ihres Herzens lehnen Sie Cortisone, für Sie Teufelszeug, nach wie vor ab. Sie haben als junger Arzt bei Cortisonen Beobachtungen gemacht, die Ihnen Angst und Schrecken eingejagt haben.
Das Seiltanzen auf dem Balkongeländer im Cortison-Rausch hätten Sie aber genausogut nach den Konsum von Alkohol und anderen Drogen erleben können (war nicht damals, vor 40 Jahren, LSD angesagt?). Wer weiß, was da noch im Spiel war. Außerdem war es wahrscheinlich eher eine Balustrade als ein Geländer. Für mich ist diese Anekdote belanglos.
Ich bezweifle stark, dass ein/e PatientIn, der/die gerade mitten im Schub steckt, überhaupt auf ein Balkongeländer hinauf will, auch nicht nach einer Overkill-Dosis Prednisolon. Ich konnte damit nicht mal Treppen steigen.
Und der von Ihnen berichtete Cortison-Todesfall dürfte Folge von Behandlungsfehlern gewesen sein, die damals, vor 40 Jahren, mit Cortisonen leider noch massenhaft vorkamen.
Zu Behandlungsfehlern siehe mein eigenes Beispiel, die prednisoloninduzierte Kardio-Krise bei meinem Diagnose-Schub weil man es nicht nötig gehabt hatte, sich an die Präparateinformation von Solu-Decortin H zu halten und meinen Serumkaliumspiegel zu kontrollieren. Nur hat mich das nicht umgebracht, weil ich die Behandlung rechtzeitig gestoppt habe.
Insgesamt gesehen sind Glucocorticoide viel weniger gefährlich als NSAR, wie z.B. der rezeptfrei erhältliche Totmacher Thomapyrin. Geschätzte NSAR-Todesfälle: 5.000 bis 8.000 pro Jahr. Nachzulesen z.B. bei Prof. Gerd Glaeske, den ich für vertrauenswürdig halte.
Selbst an Overkill-Dosen von 5 x 2.000 mg (Methyl)Prednisolon stirbt kaum jemand, sonst würden sie nicht 25 Jahre nach Roy W. Beck immer noch bedenkenlos angewendet.
Das allein ist für mich schon ein Beweis für die Ungefährlichkeit von Glucocorticoiden und müsste selbst Sie überzeugen. Ihre Cortison-Angst ist völlig irrational. Dass Sie Glucocorticoide für gefährlicher halten als NSAR, lässt mich nur fassungslos den Kopf schütteln.
Sie haben sich in Ihrer aktiven Zeit wahrscheinlich auf PatientInnen spezialisiert, bei denen keine Notwendigkeit bestand, ein Corticoid, oder überhaupt ein MS-Medikament, einzusetzen; so mussten Sie sich um die Risiken und Nebenwirkungen des Teufelszeugs nicht kümmern.
Ich habe in derselben Zeit wie Sie die ersten Erfahrungen mit Cortisonen gemacht, allerdings auf der Gegenseite, als Patientin. Ich hatte vor über 45 Jahren einen sehr guten Allergologen, der mir das erste Cortison verschrieb und mich den Umgang damit lehrte. In meiner Familie verdanken mehrere Mitglieder diesen Stoffen womöglich ihr Leben.
Mein Vater erlitt 1969 nach einem Muschelgericht eine Anaphylaxie, an der er ohne Cortisonspritze vielleicht gestorben wäre. Sein Bruder / mein Onkel war zeitlebens Allergiker und Asthmatiker, ebenso mein Neffe und ich. Wir wären in früheren Zeiten vermutlich nicht sehr alt geworden. Nur die moderne Medizin ermöglicht es uns, der natürlichen Auslese zu entrinnen.
Meine Ausführungen zu Corticosteroiden würden sich in Ihrer Neuauflage ausmachen wie Fremdkörper. Sie könnten sich damit doch nicht wirklich identifizieren. Die Subtypisierung der MS-Erkrankungen lehnen Sie ebenso kategorisch ab wie die Schubtherapie mit Corticoiden.
Ganz zu schweigen von der Schubprophylaxe mit Beta-Interferonen. (Nebenbei bemerkt, Betaferon® gibt es nur im Singular, die anderen bei MS eingesetzten Beta-Interferone heißen Avonex, CinnoVex, Extavia, Plegridy, Rebif.)
Sie wollen Ihren LeserInnen jetzt eine Dosis von 24 mg Dexamethason zugestehen, etwas mehr als die Hälfte der offiziellen Dexa-Notfalldosis von 40 mg. Damit sagen Sie ein klares Jain! zum Dexamethason, ohne wirklich dahinter zu stehen. So wirken Sie nicht überzeugend.
40 mg müssen es nicht immer sein, außer bei einem Zweizentnermann. Da Frauen und Senioren von vielen Medikamenten geringere Dosen brauchen als Männer, dürfte eine Dosis von 32 mg für den Anfang ausreichen. 24 mg, wenn frau klein und zart ist. Die Grundregel für fast alle Therapien mit Glucocorticoiden lautet:
Für jede Indikation soll innerhalb eines allgemein empfohlenen Dosierungsfensters unter Abwägung von Nutzen und Risiken eine individuelle Dosis für jeden Patienten gefunden werden. Kurz: individualisiert und evidenzbasiert.
Das Dosierungsfenster für Dexamethason ist 40 mg. In diesem Kaliber gibt es auch eine Fertigspritze für den Notfallkoffer. Und im Notfall gibt es bei Dexamethason keine Kontraindikation, nicht einmal Schwangerschaft. Der Fetus hat nichts davon, wenn seine Mutter erstickt.
Sie sollten übrigens in Ihrem Buch nicht Fortecortin schreiben, sondern Dexamethason; das Patent ist längst abgelaufen, es gibt -zig Generika von diesem Stoff. Ja, ich weiß, mein Neuro, 15 Jahre jünger als Sie, sagt auch immer noch Neurontin und Saroten, wenn er Gabapentin und Amitriptylin meint.
Die Originalpräparate haben aber keine Werbung nötig. Und manches heißt schon in der Schweiz anders als in der EU. Die Nennung des Stoffnamens hilft, Verwirrung zu vermeiden.
Bleiben Sie sich selbst treu, schreiben Sie, was Sie immer geschrieben haben, statt sich auf Ihre alten Tage noch zu verbiegen, und nehmen Sie sich die Freiheit, sich zu manchen Fragen einfach gar nicht zu äußern. (O si tacuisses, philosophus mansisses!)
Wir PatientInnen rezipieren nicht nur e i n Buch oder sonstiges Medium über MS, sondern mehrere; wir holen mehrere Meinungen ein, vergleichen, und behalten das, was wir brauchen können, quasi synkretistisch, und den Rest verwerfen wir.
Nur das Lob der Beck-Studie sollten Sie wirklich ersatzlos streichen, denn die ist einfach nur Murks, so fadenscheinig, wie eine unverblindete Studie mit zwei verschieden starken Stoffen (Prednison vs. Methylprednisolon) nur sein kann.
Die Firma, die der Augenarzt Roy W. Beck 1993, ein Jahr nach dieser Werbemaßnahme, in Tampa, Florida gründete, gibt es immer noch, das Jaeb Center for Health Research. Es kürzt sich JCHR ab, was ich fast schon als Blasphemie empfinde.
Dem unkritischen Glauben der Neurologen an die Beck-Studie verdanken womöglich Tausende ehemaliger SchubpatientInnen gravierende Dauerschäden von Osteoporose bis Katarakt. Zu den Beckschen Overkill-Dosen sagt mein Hausarzt schlicht: Das ist doch viel zu viel! Da spricht der gesunde Menschenverstand.
Ich wünsche Ihnen gutes Gelingen beim Schreiben!
Liebe Grüße
Renate