"Die Behauptung müsste doch so lauten: ‘Cortison stoppt meine MS. Es macht, dass sich die MS langsamer verschlechtert. Und das sowohl, wenn ich jeden Schub mit Cortison behandele, aber auch wenn ich alle 3 Monate eine Cortisonkur mache. Und noch besser wirkt es, wenn man es intrathekal gibt. Dann hilft es auch bei SPMS!’
Ich nehme an, so in etwa denken Sie. Und Idefix auch. Und Renate_S. auch. Wie kann man diese fundamentale Meinungsverschiedenheit aus der Welt schaffen?"
Hallo Herr Weihe,
so - mit Verlaub - simpel denke ich keineswegs. Sie phantasieren sich eine Anti-Figur zurecht, die Sie “Renate S.” nennen und die außer dem Namen nicht viel mit mir gemeinsam hat. Unterstellen Sie mir doch nicht immer wieder Gedanken und Aussagen, die ich schon aufgrund meiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit Corticoiden gar nicht machen kann. Zum Beispiel:
- “Cortison stoppt meine MS. Es macht, dass sich die MS langsamer verschlechtert.”
Ja, was denn nun? “Stoppen” ist doch etwas anderes als “verlangsamen”. Beides gleichzusetzen, ist sprachliche Schlamperei. Sich schwammig auszudrücken, das können Sie sich als Poet leisten. Aber als Naturwissenschaftler/Arzt nicht. Wenn die Ampel rot ist, ist “stoppen” auch etwas anderes als “verlangsamen”. (Hoffentlich fahren Sie nicht so Auto, wie Sie sich ausdrücken!) Ich kann es mir als Patientin auch nicht leisten.
Die Bezeichnung “Cortison” meint eine ganze Stoffgruppe. Mit “Cortison” kann man sich nicht behandeln lassen, nur mit einem der Stoffe aus dieser Gruppe. Wenn ein Arzt zu mir sagen würde, “Ich spritze Ihnen jetzt Cortison”, dann würde ich “Halt, stopp!” sagen, und von ihm erst einmal eine genaue Angabe des Stoffs verlangen.
Zum Beispiel habe ich gegen Decortin eine klare Kontraindikation, mein intermittierendes Vorhofflimmern. Ein Arzt oder Apotheker darf keinen Oberbegriff für eine ganze große Stoffgruppe verwenden, sondern muss genau angeben, welchen dieser Stoffe er meint. Einer, der darauf nicht achtet, verwechselt womöglich Dexamethason mit Decortin, und bringt mich damit auf die Intensivstation.
- “Und das sowohl, wenn ich jeden Schub mit Cortison behandele, aber auch wenn ich alle 3 Monate eine Cortisonkur mache.”
Diese Aussage ist genauso praxisfremd und unbrauchbar wie die erste. Kein vernünftiger Mensch, nicht einmal ein Neurologe, würde “jeden Schub mit Cortison behandeln”. Er würde in jedem Einzelfall abwägen, ob hier eine Cortisonbehandlung nötig ist oder nicht.
Diese Auffassung hat sich bei der jüngeren Neurologengeneration inzwischen durchgesetzt. Sie sind längst nicht mehr auf dem aktuellen Stand. Wer behandelt denn heutzutage noch ein paar läppische Sensibilitätsstörungen mit einem Corticoid? Welche/r Patient/in lässt das zu?
Die heutigen PatientInnen sind auch längst nicht mehr die verschreckten, hilflosen, leithammelgläubigen Schäfchen, die Sie sich gerne vorstellen, und als deren Hirten und Übervater Sie sich gerne sehen wollen. Die meisten sind erwachsen und volljährig, können sich selbstständig informieren und austauschen, mehrere Meinungen einholen und selbst entscheiden. Außerdem sind viele von uns schon bei der Diagnose keine “jungen” Erwachsenen mehr.
Und wie kann man sowohl “jeden Schub mit Cortison behandeln” als auch “alle 3 Monate eine Cortisonkur machen”? Als gespaltene Persönlichkeit? Eine Schubtherapie macht man, wenn man Schübe hat. Die “intermittierenden Steroid-Pulse” sind eine seit vielen Jahren gebräuchliche Therapieoption bei progredienten Verläufen, nicht für schubförmige. Dafür entscheidet sich, wer dadurch eine Besserung verspürt. Aber beides auf einmal dürfte äußerst selten sein.
- “Und noch besser wirkt es, wenn man es intrathekal gibt. Dann hilft es auch bei SPMS!”
So ein Unsinn. Anders kann man es nicht nennen, tut mir leid. Das Corticoid, das intrathekal angewendet wird, ist ein ganz anderes als das, das als Stoßtherapie verabreicht wird. Stehen Sie doch einfach dazu, dass Sie von der TCA-Therapie keine blasse Ahnung haben, statt mir zu unterstellen, dass “Renate S. so denkt”. Das verbitte ich mir!
Was ich in den Foren über die verschiedenen Corticoid-Anwendungen bei den verschiedenen MSen schreibe, “glaube” ich nicht nur, sondern kann es mit Quellen belegen. Der “Urheber” der TCA-Therapie, Prof. Ingo S. Neu, war jahrzehntelang Neuro-Chefarzt in Sindelfingen. Anfang 2005 ging er in den Ruhestand. Mein (niedergelassener) Neurologe seit 11 Jahren war davor Assistenzarzt bei Prof. Neu und hat in jener Zeit viele Behandlungen mit TCA gemacht. Bei der Beerdigung von Prof. Neu war auch mein Neuro zugegen. Ein paar Tage danach hatte ich wieder einen Termin bei ihm, da sprachen wir auch über die TCA-Therapie. Die, die davon profitieren, machen sie gerne!
Sie kann nicht mit einem der Corticoide durchgeführt werden, die bei einer Stoßtherapie infundiert werden. Für die TCA-Therapie wird nur die Triamcinolonacetonid-Kristallsuspension (“Volon®A”) benutzt. Kristallsuspensionen (es gibt sie z.B. auch von Dexamethason!) werden dort angewendet, wo eine Depotwirkung erwünscht ist. Die Kristalle lösen sich in Gelenkflüssigkeit oder Liquor nur allmählich auf, und die Wirkung hält wochenlang an. Man nutzt diesen Effekt auch bei Tieren, z,B. bei lahmenden Sportpferden.
Die TCA-Therapie ist eine rein symptomatische Therapie bei spinalen Symptomen wie Schmerzen und Spastik. Einen irgendwie verlaufsmodifizierenden Effekt hat sie nicht. Es gibt auch Alternativen dazu, z.B. den Einbau einer Baclofen-Pumpe. Den Satz “Und noch besser wirkt es, wenn man es intrathekal gibt. Dann hilft es auch bei SPMS”, hätte mit Sicherheit niemand ausgesprochen, der schon eine TCA-Therapie gemacht hat. Ich habe zwar noch keine gemacht, habe aber einen Neuro, der als Assistenzarzt schon viele gemacht hat, sodass ich meine Informationen quasi aus 1. Hand habe.
Das hat nichts mit “Meinungsverschiedenheit” zu tun. Ich äußere hier keine “Meinung” und keinen “Glauben”, sondern berichte von mir recherchierte Tatsachen. Die mir jetzt unterstellten Aussagen über Cortison hätte ich also auf keinen Fall abgegeben, nicht mal im Traum, weil sie falsch sind. Bitte streichen Sie sie aus Ihrer Materialsammlung.
Besten Dank und freundliche Grüße
Renate S.